Gründer von Human Rights Watch: „Vor 40 Jahren war die Lage noch verzweifelter“
Aryeh Neier, Gründer von Human Rights Watch, sieht Erfolge im Kampf für die Menschenrechte. Aber: Einschränkungen werde es immer geben. Ein Interview.
Herr Neier, in den vergangenen Jahren wurden in vielen Ländern Gesetze erlassen, die Menschenrechtsaktivisten kriminalisieren und ihre Arbeit behindern, zum Beispiel in Russland, Israel, Ungarn. Wie kann Deutschland darauf reagieren?
Deutschland muss international gegen solche Gesetze Stellung nehmen. Am effektivsten ist es aber, wenn die Europäische Union geschlossen dagegen vorgeht und Deutschland nicht allein agiert. Ich denke zudem, dass symbolische Akte gegen Staaten, die solche Gesetze erlassen – beispielsweise wenn Botschafter nicht zu offiziellen Zeremonien erscheinen – mehr bewirken, als Strafmaßnahmen wie wirtschaftliche Sanktionen.
Sie waren zwischen 1993 und 2012 Präsident der Open Society Foundation von George Soros. Der wird für die Arbeit seiner Stiftung zunehmend attackiert. Ändert sich gerade die Rolle der Philantropen?
In vielen Ländern ist es immer noch schwierig, auf lokaler Ebene Spenden für Menschenrechtsorganisationen zu sammeln. Dort ist man auf internationale Stiftungen angewiesen. Reiche Menschen, die spenden könnten, haben in diesen Ländern oft wirtschaftliche Beziehungen zur Regierung. Sie fürchten Repressalien, wenn sie Menschenrechtsorganisationen unterstützen. Die Menschenrechtsbewegung muss sich weltweit stärker organisieren, um kleine Beträge von lokalen Quellen zu sammeln und sich weniger von internationalen Spendern abhängig zu machen. Das ist noch zu sehr der Fall und wird gefährlich, wie wir am Beispiel Russland sehen. Dort unterstützt Open Society kaum noch Menschenrechtsaktivisten, da wir diese nach dem Erlass der Anti-NGO-Gesetze gefährden würden.
Wie sehen Sie die Welt heute?
Vor 40 Jahren war die Situation viel schlimmer als heute. Damals waren die Sowjetunion und der Ostblock noch quicklebendig. China hatte gerade die Kulturrevolution überstanden. In Lateinamerika herrschte in beinahe jedem Land eine Militärdiktatur, mit Folter, Verschleppungen und Todesschwadronen. Ähnlich schlimm war die Situation in Ostasien: auf den Philippinen, in Südkorea, Indonesien und Taiwan. Der Vietnamkrieg ging zu Ende und in Südafrika herrschte noch das Apartheidsystem. Am schlimmsten war es wahrscheinlich in Kambodscha, wo die Roten Khmer ein Viertel der Bevölkerung umgebracht hatten.
Was ist denn besser geworden?
In den 1980ern und 90er Jahren sind wir gut vorangekommen, was die Durchsetzung der Menschenrechte weltweit angeht. Dieser Fortschritt endete aber mit den Terrorattacken vom 11. September 2001 und mit den Entwicklungen in den folgenden Jahren. Aus verschiedenen Gründen ist weltweit der Rechtspopulismus gewachsen. Heute sieht die Lage verzweifelt aus. Aber vor 40 Jahren war sie noch verzweifelter.
Unter Präsident Donald Trump haben die USA sich aus der Verantwortung im Kampf für Menschenrechte zurückgezogen. Wer kann die Lücke füllen?
Kanada übernimmt eine bedeutende Rolle, besonders bei der Aufnahme von Geflüchteten. Auch Norwegen und Schweden sind wichtig. Seitdem Trump regiert, wurde Deutschland weltweit zum wichtigsten Land für die Stärkung von Menschenrechten. Deutschland hat sich sehr für individuelle Schicksale von verfolgten Menschenrechtlern eingesetzt.
Dennoch kritisieren viele die Haltung der deutschen Regierung, zum Beispiel wegen der Kooperation mit dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan…
Deutschland war auf Erdogan angewiesen, um die Zahl der syrischen Flüchtlinge, die nach Deutschland wollten, zu beschränken. Deutschland kooperiert mit der Türkei, aber unternimmt auch große Anstrengungen, um auf dem Gebiet der Menschenrechte Kompromisse zu erlangen. Die deutsche Regierung schweigt nicht zu Menschenrechtsverletzungen in der Türkei. Das finde ich sehr gut.
Berlin gilt als Zufluchtsort für vertriebene politische Aktivisten. Auch die Open Society Foundation ist von Budapest hierher gezogen…
Hier heißt man uns willkommen. Angela Merkel kann für vieles kritisiert werden, aber sie war sicher eine der wichtigsten Verteidigerinnen liberaler Werte weltweit.
Machen Sie sich Sorgen darüber, was nach ihr kommt?
Ja, aber ich befürchte nichts Schreckliches. Ich glaube, in Deutschland gibt es genug Unterstützung für die Werte, die sie vertritt.
Als Sie HRW gründeten, dachten Sie damals, dass Sie Ihr Ziel im Schutz der Menschenrechte am Ende Ihres Lebens erreicht haben werden?
Nein. Menschenrechtsverletzungen wird es immer geben. Unsere Aufgabe ist die Schadensbegrenzung. Hauptziel ist es, eine breite Öffentlichkeit für Menschenrechtsverletzungen zu schaffen. Das haben wir geschafft: Die internationalen Reaktionen auf die Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi waren weitaus bedeutsamer als in vielen Fällen der Vergangenheit. Carl von Ossietzky zum Beispiel, der 1936 den Friedensnobelpreis erhielt und von den Nazis ermordet wurde, hat zu seiner Zeit nicht so viel internationale Aufmerksamkeit erlangt.
Bleiben Sie trotz „Fake News“ und der Desinformationskampagnen optimistisch?
Bei all den Schwierigkeiten, die Regierungen mit „Fake News“ und rechtspopulistischen Kräften haben, wächst das Bewusstsein für Menschenrechtsverletzungen doch weiter. Verglichen mit dem Niveau vor zehn oder zwanzig Jahren, ist das Bewusstsein heute höher. Das verhindert zwar bestimmte Grausamkeiten nicht, aber es schafft doch eine Grenze.
Aryeh Neier, 81, wurde in Berlin geboren. 1978 gründete er die weltweit agierende Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) unter dem Namen Helsinki Watch.