Chefstratege wechselt die Seiten: Von der AOK zur Pharmalobby
Als Lobbyist sei es hilfreich, beide Seiten zu kennen, sagt Jan Carels. Bisher war er politischer Strippenzieher der AOK. Nun vertritt er die Interessen der Pharmaindustrie.
Mit Seitenwechslern aus den Krankenkassen haben die Pharmalobbyisten am Berliner Hausvogteiplatz Erfahrung. Ihre Hauptgeschäftsführerin, die einstmalige SPD-Gesundheitspolitikerin Birgit Fischer, war Vorstandschefin der Barmer GEK, bevor sie vor vier Jahren unter beträchtlichem öffentlichen Aufsehen beim Verband der forschenden Arzneihersteller (vfa) anheuerte. Der bisherige Strategie-Chef des Verbands, Cornelius Erbe, hatte zuvor bei der Krankenkasse DAK die Geschäfte mitgeführt.
Und jetzt haben sich die Interessenvertreter der Pharmaindustrie für dessen Nachfolge einen der wichtigsten Strippenzieher der AOK geangelt.
Jan Carels, bisher beim AOK-Bundesverband zuständig für politische Einflussnahme, macht diesen Job nun für die Gegenseite. Seit Oktober leitet der 46-Jährige „Politik und Strategie“ des mächtigen Pharmaverbands, der die Interessen von 45 Herstellern mit mehr als 100 Tochter- und Schwesterfirmen vertritt – und damit auch die von gut 77 000 Beschäftigten in Deutschland.
Nicht so unbemerkt wie erwünscht
Dass der Wechsel nicht so unbemerkt ablief, wie es der Verband gern gesehen hätte, lag an einem nahezu zeitgleich stattfindenden Erdbeben bei Carels’ vormaligem Arbeitgeber. Nachdem der Politikstratege dem AOK-Bundesverband den Rücken gekehrt hatte, entledigte man sich dort nämlich auch prompt der kompletten Vorstandsspitze.
Ob und inwieweit zwischen beidem ein Zusammenhang bestand, ist Spekulation. Bekannt ist lediglich, dass Carels der Hausmacht eines der beiden Geschassten, des gleichaltrigen Vorstandsvorsitzenden Jürgen Graalmann, zugerechnet wurde.
Gegen das Klischee von Gut und Böse
Platte Kritik an seiner Entscheidung – dass er ins gegnerische Lager gewechselt sei und noch dazu „von den Guten zu den Bösen“ – lässt Carels nicht gelten. Er hat sie bisher auch, wie er versichert, nicht zu hören bekommen. Die Pharmaindustrie kümmere sich wie Ärzte und Krankenkassen um die Gesundheitsversorgung der Menschen, sagt der neue vfa-Geschäftsführer. Da machten solche Schwarz-Weiß-Klischees keinen Sinn.
Kritik am jeweiligen Geschäftsgebaren könne im Einzelfall überall gerechtfertigt sein – beim Arzneihersteller, der sein Produkt zu aggressiv zu vermarkten versucht, wie bei der Kasse, die alten Menschen den Rollstuhl nicht zahlen will. Und wenn man schon nach Grundmustern suche, könne man die Arzneihersteller auch als die Chancenorientierteren und die Versicherer als die Risikoscheueren beschreiben.
Eine Art Heimkehr
Dass sich Ärger und abfällige Reaktionen auf den Wechsel in Grenzen halten, mag auch daran liegen, dass Carels ursprünglich aus der Pharmabranche kam. Vor seiner AOK-Zeit war der studierte Volkswirt bei Sanofi für die Zusammenarbeit mit Gesundheitsinstitutionen und Kostenträgern verantwortlich. Und Anfang der 2000er Jahre war er auch schon mal beim vfa: als Referent für strategische Grundsatzfragen. Davor wiederum hat Carels für die American Medical Association, die Prognos AG und diverse Ortskrankenkassen gearbeitet.
Bei näherem Hinsehen wird aus dem „Überläufer“ also eine Art Überzeugungstäter. Es sei „extrem hilfreich“, in dem durch gegenseitiges Misstrauen geprägten Gesundheitssystem beide Seiten zu kennen, sagt er. Dadurch könne man effektiver und auch „einen Tick objektiver“ arbeiten. Wobei ihm, aufgrund seiner Erfahrungen, auch als Pharmalobbyist der sozialpolitische Ansatz wichtiger sei als der ausschließlich unternehmenspolitische.
"Bestmögliche Versorgung als Ziel"
Nur für ein singuläres Produkt die Werbetrommel zu rühren, hätte ihm nicht gelegen, versichert Carels. Es gehe ihm um die Arbeit an Rahmenbedingungen. Die bestmögliche Versorgung trotz steigender Kosten zu organisieren, sei ein Thema, das im Gesundheitswesen alle umtreibe. Das gemeinsam in den Griff zu bekommen, empfinde er auch in seinem neuen Job als Herausforderung.
Allerdings, so schön das alles klingt: Einen inhaltlichen Positionswechsel verlangt der Pharmajob dem einstigen AOK-Lobbyisten schon auch ab. Als solcher hat Carels noch vor drei Jahren beispielsweise mehr Transparenz bei den ausgehandelten Preisen für neue Medikamente gefordert. Anders, so sagte er damals, könne man die anvisierten Ersparnisse vergessen.
Nun, als Interessenvertreter der Hersteller, hat er das Gegenteil zu behaupten. Inzwischen hätten sich die Erfahrungen mit dem Arzneimittel-Neuordnungsgesetz (Amnog) eben geändert, sagt er zur Verteidigung. Doch den Grundgedanken des Gesetzes verteidigt Carels auch in seiner neuen Funktion. Die Überprüfung neuer Arznei auf ihren Nutzen hin sei ebenso sinnvoll wie die Vorgabe, dass es nur für bessere Mittel auch mehr Geld geben darf. Und seine Kritik beschränkt sich darauf, dass dieses Prinzip in der Praxis „leider oft nur als Spargesetz gelebt“ werde.
Auf der Suche nach versöhnlicherer Tonart
Pharmalobbyisten alten Schlages käme ein solches Sowohl-als-auch kaum über die Lippen. Doch der Arzneihersteller-Verband müht sich schon seit der Bestallung der einstigen SPD-Politikerin Fischer um eine versöhnlichere Tonart. Der vormalige AOK-Mann Carels könnte dazu passen. Mit der angeblichen Macht der Pharmalobby sei es ohnehin nicht so weit her wie vielfach behauptet, sagt er. Und verweist als Beleg auf seine Abteilung.
Gerade mal fünf Mitarbeiter hat Carels jetzt beim vfa für seine Lobbyarbeit. Bei der AOK waren es 30.
Der Text erschien in der "Agenda" vom 24. November 2015 - einer Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie im E-Paper des Tagesspiegels lesen.