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Im Süden der Türkei gibt es mehrere große Flüchtlingslager, in denen vor allem Syrer Zuflucht gefunden haben.
© Ozan Kose/AFP

Flüchtlingskrise: "Von 14 Dollar im Monat kann keine Familie überleben"

Die Präsidentin der Welthungerhilfe, Bärbel Dieckmann, über die weltweiten Flüchtlingskrisen, und warum Entwicklungshilfe Migration nicht verhindern kann.

Seit dem Zweiten Weltkrieg waren nie mehr Menschen auf der Flucht. Warum?

Ja, die Zahlen sind beunruhigend hoch. Die Zahl der Menschen, die vor kriegerischen Auseinandersetzungen flüchten, ist stark gestiegen. Migration hat es immer gegeben, wegen Klimawandel, Hunger oder um wirtschaftlich bessere Perspektiven zu bekommen. Aber die großen Zahlen sind die Folge kriegerischer Auseinandersetzungen.

Gibt es unter diesen Bedingungen eine Aussicht, über das von der Bundesregierung oft bemühte Schlagwort „Fluchtursachen bekämpfen“ Menschen in ihrer Heimat zu halten?

Fluchtursachen bekämpfen heißt Hunger, Armut und Hoffnungslosigkeit in der Welt zu bekämpfen. Das heißt auch, Menschen vor Ort so gut zu versorgen, damit sie in der Region bleiben können und sich nicht alle auf einen ganz unsicheren Weg machen müssen. Das bedeutet aber auch: Es braucht Frieden in diesen Ländern. Da sind politische Lösungen gefragt. Nicht-Regierungsorganisationen wie die Welthungerhilfe haben darauf gar keinen Einfluss. Das gilt für Syrien. Ohne Frieden werden die Menschen dort nicht bleiben können. Das gilt übrigens auch für den Südsudan, wo derzeit insgesamt knapp vier der neun Millionen Einwohner auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen sind. Die mehrfach geschlossenen Friedensvereinbarungen im Südsudan haben nie lange gehalten.

In Syrien ist ein Waffenstillstand vereinbart worden, es gibt Verhandlungen. Hilft das?

Der Waffenstillstand wird mit Einschränkungen eingehalten. Das hören wir von unseren Kollegen vor Ort. Aber das ändert nichts daran, dass die Situation für Menschen in Syrien auch im Waffenstillstand eine verzweifelte ist. Kinder hungern, es gibt kaum medizinische Versorgung mehr. Syrien ist an ganz vielen Orten ein zerstörtes Land. Trotzdem sind die Friedensverhandlungen dringend notwendig. Und wir haben auch eine kleine Hoffnung, dass es Schritte nach vorne gibt, wenn sich Großmächte wie die USA, Russland, Regionalmächte wie Saudi-Arabien und der Iran mit den Akteuren vor Ort auf eine politische Vereinbarung einigen könnten.

Warum brechen die Menschen auf nach Europa?

Migration ist ja ein komplexes Unternehmen. Die erste Stufe mag sein, man zieht vom Land in die Städte in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Dann gerät man womöglich in einen Bürgerkrieg und bringt sich und seine Familie erst einmal in Sicherheit. Und dann denkt man neu über die Lebensperspektiven nach. Was bringt Menschen in den Flüchtlingslagern rund um Syrien dazu aufzubrechen?

Ich habe in der Türkei eines der großen Flüchtlingslager in der Südtürkei besucht, wo Tausende Syrer leben. Da habe ich niemanden getroffen, der gesagt hätte: Ich will hier raus. Es gibt ausreichend Nahrung und Wohncontainer, es gibt Schulen und Kindergärten. Die Menschen fühlen sich da wohl genug, um zu bleiben. Es gibt andere Erfahrungen in Jordanien und Libanon, und zwar in der Situation im vergangenen Jahr, als das Welternährungsprogramm (WFP) und das Flüchtlingshilfswerk UNHCR nur noch so wenig Mittel zur Verfügung hatten, dass sie die Essensrationen um die Hälfte kürzen mussten. Statt 28 Dollar pro Monat für eine vierköpfige Familie bekamen sie nur noch 14 Dollar. Davon kann niemand überleben. In der Türkei allerdings leben die meisten Flüchtlinge nicht in Lagern sondern hausen unter schwierigsten Bedingungen in Garagen, feuchten Kellern und Rohbauten ohne staatliche Versorgung. Sie unterstützen wir vor allem mit Geldkarten. Solange die Menschen ein Angebot haben, das ein Überleben ermöglicht, machen sie den Schritt über das Mittelmeer auch nicht sofort. Wo Menschen für sich keine Möglichkeit mehr sehen, ihre Existenz zu sichern, ist das anders. Aber diese Flucht nach Europa kostet Geld. Diejenigen, die bei uns ankommen, sind in der Regel die, die Mittel dafür noch zur Verfügung haben. Oft legen die Familien auch zusammen, um einen jungen Mann voraus zu schicken, weil das Geld nicht reicht, um alle rauszubringen. Frauen, die mit ihren Kindern in Garagen in der Türkei leben, und kein Geld haben, können sich nicht auf den Weg machen. Unser Plädoyer ist deshalb: Wir müssen alles dafür tun, damit die Menschen in der Region gut versorgt sind. Und natürlich steht auch Europa in einer Verantwortung. Das hilft auch, die Willkommenskultur in Europa nicht über zu beanspruchen, sondern zu erhalten.

Hilfe mit Zukunftsperspektive

Hilfe zum unmittelbaren Überleben ist in Krisensituationen das erste, was nötig ist. Aber wenn eine solche Lage über Jahre anhält, was kann dann getan werden, damit die Menschen in den Flüchtlingslagern nicht komplett verzweifeln – und sich wieder in Bewegung setzen?

In Ländern wie Mali oder Niger versuchen wir die unmittelbare Hilfe mit einer Zukunftsperspektive zu verbinden. Da werden Menschen absehbar länger bleiben. Sie bauen Gemüse an, manchmal sogar Getreide. Das geht in der Türkei nicht. Da sind die Flüchtlinge auf Zeit und empfinden das auch so. Ich habe mit vielen gesprochen, die nichts anderes wollen als nach Syrien zurückzukehren. Außerdem ist die Türkei ein Land, in dem man einkaufen kann, wenn Geld zur Verfügung steht. Mit den Geldkarten können sich die Menschen versorgen. Dort investieren wir mehr in Bildungsprojekte, damit nicht eine verlorene Generation syrischer Kinder heranwächst, die nicht lesen und schreiben lernen. In Syrien haben die Kinder derzeit gar keine Chance auf Bildung, dort bekommen sie ja nicht einmal genug zu essen. Im Irak dagegen sind es oft Binnenvertriebene, die innerhalb des Nordiraks geflüchtet sind. Dort gibt es auch langfristigere Projekte zur Integration, und um den Menschen die Perspektive zu geben, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen.

Die größte Krise spielt sich im Südsudan ab

An welchen Schauplätzen der weltweiten Flüchtlingskrise ist die Welthungerhilfe tätig?

Wir arbeiten im Niger, wo viele Menschen aus Nigeria Zuflucht suchen, die vor den Attentaten und Überfällen der Terrorgruppe Boko Haram flüchten. In Mali betreuen wir Binnenflüchtlinge, die aus dem Norden des Landes in den Süden gekommen sind, nachdem islamistische Milizen dort Stadt um Stadt erobert hatten. Der Friedensprozess mit den Tuareg im Norden verläuft nach wie vor schleppend. Im Südsudan versorgen wir die für uns größte Anzahl an Binnenvertriebenen, rund 500.000 Menschen. In der Demokratischen Republik Kongo helfen wir derzeit rund 280.000 Binnenvertriebenen. Und wir unterstützen 160.000 syrische Flüchtlinge in der Türkei und 200.000 Binnenvertriebene in Syrien und weitere 200.000 Binnenvertriebene im Irak.

Es gibt auch Konflikte mit Einheimischen

Wie sollten solche langfristigen Projekte nach Ihrer Erfahrung aussehen?

Zunächst geht es vor allem um den Gemüseanbau und das Halten einiger Haustiere, damit man die eigene Familie wieder ernähren kann. Es geht um Gesundheitszentren und um psycho-soziale Unterstützung von Kindern. Wir organisieren Unterstützerkomitees von Einheimischen, um die Flüchtlinge unterstützen. Es geht um die Vermittlung von Kenntnissen über Ernährungs- und Hygienefragen. Und um Konfliktlösungsstrategien. Denn oft gibt es Konflikte zwischen der eingesessenen Bevölkerung und den neu Hinzugekommenen.

In Mali und Niger waren die Leute ja schon arm, bevor die Flüchtlinge kamen. In beiden Ländern sind Wasser, Nahrung für die Tiere und Ackerland schon lange ein Problem.

Das ist eindeutig so, weil sich diese Notlage dann oft noch verschärft. Ich wundere mich immer wieder über die Großzügigkeit, mit der die Flüchtlinge dennoch aufgenommen werden. Auch in Jordanien und im Libanon ist das so, trotz aller Herausforderungen, die sie haben. Das gilt auch für die Türkei. Es sind 2,5 Millionen Flüchtlinge, die zumindest in Frieden dort leben können und nicht massiv abgelehnt werden.

Diplomatie und gute Versorgung sind das mindeste

Zusammenfassend ist Ihr Rat also: Der diplomatische Einsatz, um Friedenslösungen zu finden, sollte verstärkt werden. Und dem Welternährungsprogramm sollte möglichst das Geld nicht ausgehen?

Diese Konflikte sind alle nicht ohne internationale Unterstützung zu lösen. Syrien schon gar nicht. Und ja: Dem WFP sollte das Geld nicht ausgehen. Das ist das mindeste. Die Flüchtlinge, die nach Europa gekommen sind, gehen in eine extrem ungewisse Zukunft. Deshalb können das viele auch nicht. Sie haben die Chance, die Kraft und die Mittel nicht, um sich auf den Weg zu machen. Und die Menschen hoffen auch, dass sie beim Wiederaufbau Syriens gebraucht werden. Sie haben eine große Identifikation mit ihrem Land. Sie haben mir immer viel von ihrer Heimat erzählt, viele Frauen waren dort erwerbstätig – und wollen das wieder sein.

Womöglich werden einige junge Männer auch nach Europa geschickt, um ihre Familien in Syrien oder in den Flüchtlingslagern zu unterstützen.

Ja aber das ist erst möglich, wenn die Migranten integriert sind und einen Arbeitsplatz haben. Ein Einwanderungsgesetz könnte vieles leichter machen. Entwicklungshilfe als solche verhindert nicht Migration. Aber wenn sie die Flucht verhindern kann, ist das doch auch schon mal was.

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