Ukraine in der Krise: Vom Krieg zerstört, von Deutschland enttäuscht
Vor einem Jahr hatten die Ukrainer große Hoffnungen auf Deutschland gesetzt. Inzwischen glauben viele, Berlin seien die wirtschaftlichen Beziehungen zu Moskau das Wichtigste. Der Kreml kritisierte unterdessen die neuen Sanktionen des Westens.
Seit Anfang des Ukrainekonflikts vor mehr als einem Jahr bemüht sich die Europäische Union (EU) um eine Lösung des Streits zwischen Moskau und Kiew. Vor allem Deutschland kommt eine entscheidende Rolle zu. Große Hoffnungen hatten die Bürger im Land auf die Bundesregierung gesetzt; und in der Tat: Frank-Walter Steinmeier (SPD) reiste so oft nach Kiew wie kein anderer Außenminister der EU – am Freitag war er zum achten Mal dort.
Inzwischen allerdings sind viele Ukrainer desillusioniert. Weit verbreitet ist im Land die Ansicht, dass die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen den meisten deutschen Politikern und Verbandsvertretern wichtiger sind als der Ukrainekonflikt und dessen Beilegung im Wege stehen. Steinmeier wird bis heute vorgeworfen, dass er zu Beginn der Krise im vergangenen Februar zunächst am verhassten Diktator Viktor Janukowitsch festhalten wollte und am 21. Februar eine Vereinbarung mit dem Präsidenten unterzeichnete. Und das, obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits seit Monaten in der gesamtem Ukraine für die Absetzung Janukowitschs demonstriert wurde. Hunderte Menschen waren durch massiven Gewalteinsatz der Polizei verletzt worden. Es gab Berichte über Verschleppte, und am 20. Februar waren an einem Vormittag fast 70 Menschen durch Scharfschützen erschossen worden. Bilder, die die Ukrainer mit Steinmeier assoziieren.
Zudem wird Steinmeier eine zu große Nähe zu Russland nachgesagt. Ein ukrainischer Spitzenpolitiker, der anonym bleiben will, weil er der neuen Regierungskoalition angehört, sagte dem Tagesspiegel, dass Steinmeiers Nähe zum früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) die Glaubwürdigkeit des deutschen Außenministers infrage stelle. „Auch ich frage mich, auf wessen Seite er steht, wenn er mit uns verhandelt“, sagt der Politiker.
Auch Angela Merkel wird misstraut
Selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die seit Monaten Telefondiplomatie mit Moskau und Kiew betreibt und zu vermitteln versucht, wird von manchen in Kiew sehr skeptisch beäugt. Doch auch den Ukrainern ist klar, dass die CDU-Politikerin das bevölkerungsreichste Land und die größte Wirtschaftsmacht Europas führt. „Angela Merkel ist die dienstälteste Regierungschefin in der EU, sie besitzt Respekt und Einfluss sowohl in Brüssel und Washington wie auch in Peking und Moskau“, sagte Wolodimir Fesenko, Direktor am Penta-Zentrum für politische Studien, beim Kiewbesuch der Kanzlerin Ende August.
Es gab Hoffnungen, Berlin würde Waffen liefern
Eine Zeit lang keimten in Kiew Hoffnungen auf, Deutschland würde die Ukraine womöglich mit Waffenlieferungen unterstützen. Die EU hatte nach langem Hin und Her tatsächlich Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängt. Vergessen waren die Bilder, die Merkel zusammen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin beim Finale der Fußball-WM in Brasilien zeigten. Damals hatten die ukrainischen Medien und weite Teile der Politik befürchtet, Deutschland und Russland könnten über die Köpfe der Ukrainer und westlicher Länder wie Polen und die baltischen Staaten hinweg entscheiden, wie mit der Ukraine weiter vorgegangen werden soll. Der böse Vergleich von Merkel mit dem nationalsozialistischen Außenminister Joachim von Ribbentrop machte in unzähligen Karikaturen und Kommentaren in Medien und sozialen Netzwerken die Runde. Als Merkel sich dann aber in Kiew mit Präsident Petro Poroschenko traf, ihm die volle Unterstützung bei der Wahrung der ukrainischen Souveränität zusagte und Hilfsleistungen in Aussicht stellte, wurde Merkels Bedingung, den Konflikt im Dialog zu lösen, akzeptiert.
In der Ukraine wird über eine Frühjahrsoffensive debattiert
Doch seitdem ist schon mehr als ein Vierteljahr vergangenen. Der Vorschlag des Westens, mit Russland und den Separatisten aus der Ostukraine unter Führung der OSZE einen tragbaren Friedensplan zu vereinbaren, ist in den Augen der meisten Ukrainer gescheitert. Präsident Petro Poroschenko soll bei einem Treffen des Nationalen Sicherheitsrates erklärt haben, er sehe Anzeichen dafür, dass Putin die Zeit der Verhandlungen nutze, um im Osten des Landes weiter Tatsachen zu schaffen. Ein Teilnehmer der Sitzung sagte der Internetzeitung „Lewej Bereg“: „Während wir uns am grünen Tisch über mögliche Friedenspläne austauschen, schneiden die Russen weitere Stücke aus dem Staatsgebiet der Ukraine, das können wird uns nicht ewig ansehen.“
In der ukrainischen Öffentlichkeit wird seit Wochen über die Idee diskutiert, im Frühjahr eine Militäroffensive nicht nur im Osten des Landes, sondern auch auf der Halbinsel Krim zu starten, um die russischen Truppen zu vertreiben. Dazu aber fehlten Waffen und gut ausgebildete Soldaten, warnen selbst die Unterstützer dieses Gedankens. Fast fieberhaft suchen ukrainische Politiker aller Couleur inzwischen international nach Partnern, die einen solchen Plan befürworten.
Deutsche Waffenlieferungen an die Kurden machen etwas Hoffnung
Auch die Deutschen will man noch immer von Waffenlieferungen überzeugen. Vor allem die Militärhilfe für die Kurden im Nordirak durch die Bundesregierung hat in Kiew neue Begehrlichkeiten geweckt. Nicht nur bei Regierungsmitgliedern, sondern auch bei Medien und in der Bevölkerung wächst die Hoffnung, in Berlin könnte es zu einem Umdenken kommen.
Petro Poroschenko will Militärgerät im Ausland auf Kredit einkaufen
Am Samstagabend wurde bekannt, dass die vom Staatsbankrott bedrohte Ukraine will Waffen und anderes Militärgerät mit Krediten im Ausland einkaufen. „Es besteht Unterstützung und Verständnis bei unseren ausländischen Partnern“, sagte der ukrainische Präsident Petro Poroschenko am Samstag Medien zufolge bei einer Sitzung des Sicherheitsrates in Kiew. Auch die eigenen Rüstungskonzerne seien angewiesen, trotz Staatsschulden in 24-Stunden-Schichten Waffen zu produzieren. Das Fehlen von Geld dürfe nicht das Ende der Produktion bedeuten, meinte der Präsident. „Wir tun alles, um die Schulden rasch zu begleichen“, sagte er.
Die Ex-Sowjetrepublik hofft auch auf neue Milliardenhilfen des Internationalen Währungsfonds
Die Ex-Sowjetrepublik hofft auch auf neue Milliardenhilfen des Internationalen Währungsfonds (IWF). Nach Darstellung des von der EU und den USA unterstützten Staatschefs liegen die Kosten für die „Anti-Terror-Operation“ gegen die prorussischen Separatisten in der Ostukraine bei 100 Millionen Griwna (rund 5 Millionen Euro) täglich. „Wir müssen uns heute ernsthaft um die Absicherung der Streitkräfte kümmern“, sagte Poroschenko. Für die auf Pump gekauften Waffensysteme im Ausland sicherte der Präsident den Kreditgebern ukrainische Staatsanleihen zu. Diese Möglichkeiten hätten sowohl ukrainische Diplomaten als auch er bei seinen Auslandsreisen ausgelotet, sagte Poroschenko.
Russland rügt neue Sanktionen des Westens
Russland verurteilte am Samstag die Ausweitung der Sanktionen westlicher Staaten wegen der Ukraine-Krise als kollektive Bestrafung der Krim-Bevölkerung. Mit der Verhängung der Strafmaßnahmen “gegen die Republik Krim und die Stadt Sewastopol“ hätten die USA und die EU einen direkten Beweis dafür geliefert, dass der Westen anerkenne, dass sich die Krim-Bewohner “einstimmung und freiwillig“ für die Rückkehr nach Russland entschieden hätten, erklärte das Außenministerium am Samstag. “Daher beschlossen sie eine kollektive Bestrafung.“ Es sei traurig, dass Länder, die sich als demokratisch bezeichneten, im 21. Jahrhundert auf solche Methoden zurückgriffen, hieß es in der Erklärung des Moskauer Außenministeriums.
Barack Obama untersagte unter anderem Investitionen auf der Krim
Nach der EU und Kanada hatten auch die USA am Freitag ihre Sanktionen gegen Russland ausgeweitet. US-Präsident Barack Obama untersagte unter anderem Investitionen auf der Krim sowie Ausfuhren in das Gebiet. Zudem ermächtigte er das Finanzministerium zu weiteren Strafmaßnahmen gegen Personen und Unternehmen in der Region. (mit dpa/rtr)