Marokko: Volkszorn wegen eines toten Fischhändlers
Es sind die größten Proteste in Marokko seit Jahren: Täglich demonstrieren zehntausende Menschen gegen Polizeigewalt und Behördenwillkür.
Auslöser der Kundgebungen war der Tod eines Fischhändlers. Mouhcine Fikri starb in einer Müllpresse bei dem Versuch, seine Ware zu retten, die Polizisten zuvor konfisziert und entsorgt hatten.
Hunderte begleiteten den Trauerzug bei der Beerdigung, Tausende gehen seither auf die Straßen. Die Medien vergleichen den Tod Mouhcine Fikris bereits mit dem Fall von Mohammed Bouazizi. Jenem tunesischen Gemüsehändler, der mit seiner Selbstverbrennung im Dezember 2010 den „Arabischen Frühling“ auslöste. Aber was ist wirklich am vergangenen Freitag in der marokkanischen Mittelmeerstadt Hoceima passiert?
Bericht der Staatsanwaltschaft
Am Dienstag präsentiert die marokkanische Staatsanwaltschaft erste Erkenntnisse. Demnach war der 31-jähriger Fischhändler mit rund 500 Kilogramm Schwertfisch in eine Polizeikontrolle geraten. Da der Fisch illegal gefangen war – zwischen Oktober und November besteht ein Fangverbot – befahl ein herbeigerufener Tierarzt die Vernichtung der gesamten Ware.
So landete Fisch im Wert von umgerechnet rund 10000 Euro im Müllwagen. In diesem Moment hat Mouhcine Fikri womöglich befürchtet, seine Existenz könnte auf dem Spiel stehen. Laut Augenzeugen sprang er gemeinsam mit zwei anderen Männern auf die Ladefläche des Lastwagen. Als die Müllpresse anging, konnten die zwei anderen rechtzeitig abspringen, Mouhcine Fikri blieb stecken und wurde erdrückt.
Während die Staatsanwaltschaft nun von fahrlässiger Tötung spricht, gehen die Demonstranten von Mord aus. Augenzeugen berichten, die Polizisten hätten gerufen: „Zerquetsch seine Mutter.“ Dieser Satz ist inzwischen zum Slogan geworden und auf Twitter der Hashtag, unter dem jetzt zehntausende Marokkaner Gerechtigkeit fordern.
Das System reagiert
Mittlerweile hat die Justiz reagiert und ein Verfahren gegen elf Verdächtige eingeleitet. Zu den Angeklagten gehören nicht nur die direkt Beteiligten, sondern auch Mitarbeiter der Fischereibehörde, die in den illegalen Fischhandel verwickelt gewesen sein sollen.
Das Innenministerium hatte eine lückenlose Aufklärung versprochen, allerdings ist fraglich, ob das reichen wird, um die aufgebrachten Menschen zu beruhigen. Denn das Land kämpft fünf Jahre nach dem „Arabischen Frühling“ mit Armut, hoher Arbeitslosigkeit und Korruption. Und Beobachter sagen, dass der Fall von Mouhcine Fikri in Marokko keineswegs einzigartig sei.
Die Mitarbeiterin einer deutschen Stiftung vor Ort, die anonym bleiben will, sagt: „Ähnliche Geschichten passieren hier fast jeden Tag.“ Sie glaubt, der Grund, warum es ausgerechnet jetzt zu Protesten komme, sei auch politischer Natur: „So kurz vor dem Klimagipfel in Marrakesch schaut die ganze Welt nach Marokko. Da funktioniert die Mobilisierung besonders gut – nicht zuletzt weil es unter den Augen der Weltöffentlichkeit unwahrscheinlicher ist, dass die Proteste gewaltsam niedergeschlagen werden.“
Der marokkanische Sonderweg
Während die anderen Staaten der Region bald nach Beginn des „Arabischen Frühlings“ im Chaos versanken, gelang es dem marokkanischen König 2011 die Proteste mit einer Verfassungsreform und Geldgeschenken einzudämmen. Beobachter gehen davon aus, dass der König auch dieses Mal versuchen werde, mit einer Mischung aus Entgegenkommen und Repression die Protestbewegung zu schwächen.
Viele sagen: Wenn der König klug reagiert, stehen die Chancen nicht schlecht, dass die Monarchie auch diesen Sturm unbeschadet übersteht. Eine junge Studentin aus Casablanca sagt: „Die Menschen wollen Gerechtigkeit und keine Revolution.“
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