Der Fall Annegret R.: Vierlinge mit 65 - wenn zu viele Grenzen fallen
Die Empörung ist groß über Annegret R., die 65-Jährige, die Vierlinge bekommen möchte. Aber warum ist das so? Liegt es am doppelten Zugriff auf Spenderware: Sperma und Ei? Oder daran, dass Menschen mit vielen Kindern bei uns als asozial gelten? Ein Kommentar.
Es ist ein Fall, der Grenzen sprengt – vor allem die Grenzen der Fantasie. Oder hätte sich jemand ausdenken können, was die Berliner Lehrerin Annegret R. die Welt nun via Exklusivvertrag mit einem TV-Sender wissen lässt?
Mit 65 Jahren ist sie schwanger mit Vierlingen. Eizelle und Samen sind gespendet und ihr im nicht näher benannten europäischen Ausland eingepflanzt worden. In Deutschland ist so etwas verboten, in Spanien, das eines der liberalsten Gesetze zur Reproduktionsmedizin in Europa hat, ist Bedingung für eine solche OP, dass man nicht mehr als sechs eigene Kinder hat. Hat Annegret R. aber, 13 an der Zahl, sie sind zwischen 44 und neun Jahre alt, und sieben Enkelkinder hat sie auch.
Reicht das denn nicht?, fragt die Online-Community, die den Vorgang auf diversen Kanälen engagiert diskutiert – und mehrheitlich als pervers, krank, wider die Natur, schamlos oder mindestens verantwortungslos kommentiert.
Wenn Männer mit 70 Vater werden, wird das gefeiert
Woran liegt es, dass Annegret R. die Menschen so aufbringt?
Ist es der Umstand, dass eine so alte Frau überhaupt noch mal Babys bekommen wollte, obwohl sie ein 50-prozentiges Risiko hat, vor deren 20. Geburtstag das Zeitliche gesegnet zu haben? Finden einige. Aber ist das nicht unfair, wenn zugleich in der „Bunten“ steht, als der 70-jährige Fritz Wepper Vater wird: „Was für eine schöne Überraschung!“ Und „Spätes Babyglück“, wenn Ulrich Wickert sich mit 69 Jahren noch mal fortpflanzt? Die sind noch viel wahrscheinlicher tot, wenn die Kinder 20 sind. Ist das weniger bedeutend?
Oder ist es der Umstand, dass sie bereits 13 Kinder hat – was im von Überalterung bedrohten Deutschland statt mit Ehrenurkunden vor allem mit der Unterstellung quittiert wird, wohl asozial und scharf aufs Kindergeld zu sein. Aber wenn man nicht will, dass auf finanzielle Anreize reagiert wird, warum gibt es sie dann? Annegret R. ist Lehrerin, womöglich Beamtin, das ist nicht klar, aber in dem Fall hätte sie ab dem dritten Kind einen Zuschlag von mehr als 300 Euro erhalten.
Oder ist es der doppelte Zugriff auf Spenderware: Sperma und Ei! Dass ihr alter Körper nun Brutstätte ist für die Kinderzutaten junger Spender – ist es das, was so empört? Diese Verkehrung des ganzen, ohnehin umstrittenen Prinzips der Leihmutterschaft? Sie sei ja gar nicht die „echte“ Mutter, auch das empört die Öffentlichkeit. Aber damit entwertet sie pauschal alle nichtbiologischen Familienbeziehungen gleich mit. Ist das zeitgemäß? Eltern trennen sich, manchmal schon während der Schwangerschaft, neue Partner treten an die Stelle der Erzeuger. Wer könnte über die „Echtheit“ dieser Beziehung richten – außer die Betroffenen selbst?
Erinnert sich noch jemand an den Aufschrei, als vom „Social Freezing“-Angebot einiger amerikanischer Internetfirmen berichtet wurde? Dass junge Frauen ihre eigenen Eizellen einfrieren lassen, um sie später, wenn es ihnen besser passt, zum Kinderkriegen nutzen zu können? Das wären dann „echte“ Mütter, aber irgendwie war das auch nicht recht.
Auch andere Schwangerschaften sind riskant
Man liest von Sorge um die Vierlinge. Mehrlingsschwangerschaften sind riskant, Frühgeburt ist wahrscheinlich, vielleicht schädigt das die Babys, kommen sie behindert auf die Welt? An diesen Bedenken ist sicher viel dran, aber erstens gelten sie auch, wenn die Mutter jünger ist, und dann versteckt sich darin auch ein fragwürdiger Selektionsanspruch. Seit Längerem schon sehen sich Frauen mit behinderten Kindern mit der Frage konfrontiert, ob das denn sein musste. Weil es nämlich nicht sein musste. Ein behinderter Embryo kann abgetrieben werden. Ist doch besser für alle. Ist es das?
Wider die Natur, mit diesem Denkmuster könnte man auch hier ansetzen. Das Aussortieren, weil man es kann, ist das natürlich? Und überhaupt Natur. Der Mensch hat sich vor unendlich langer Zeit entschieden, seine naturgegebenen Grenzen in jede Richtung zu sprengen, technisch und auch kulturell, wofür er sich immer neue Zugeständnisse an die Vielfältigkeit des Lebens abringt. Wenn heute in Berlin homosexuell und widernatürlich in einem Satz stehen, geht es meist um als rückständig empfundene islamische Kulturvorstellungen.
Vielleicht ist es die Häufung der Grenzüberschreitungen, die zur Empörung über Annegret R. führt. Sie hat auch da die Grenzen überschritten. Und dann hat sie ihre Schwangerschaft zur exklusiven Vermarktung an einen TV-Sender verkauft. Wie könnte man das außer mit Geltungssucht begründen? Eine unsympathische Aktion, die es einem sehr schwer macht, für Annegret R. zu sprechen.
Ariane Bemmer
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