Debatte um die Grundrente: Vier Experten erklären, was wirklich gegen Altersarmut hilft
Die GroKo hat unter großen Mühen einen Kompromiss bei der Grundrente gefunden – doch lindert sie die Altersarmut im Land? Vier Ökonomen antworten.
Prof. Dr. Joachim Ragnitz ist seit 2007 stellvertretender Leiter der Dresdner Niederlassung des Instituts für Wirtschaftsforschung (ifo).
Die aktuelle Debatte um die Grundrente ist geprägt von Missverständnissen und parteipolitischem Gezänk. Zwei Argumentationsketten stehen sich diametral gegenüber.
Einerseits soll die Grundrente den „Respekt“ für die Lebensleistung von Rentnern ausdrücken, die in ihrer Erwerbsphase nur ein geringes Einkommen erzielt haben (oder Kinder und Pflegebedürftige betreut haben) – dies ist die Begründung, die von der SPD in den Vordergrund gerückt wird. Eine Bedürftigkeitsprüfung, die im Mittelpunkt des aktuellen Koalitionsstreits steht, wäre dann in der Tat nicht zielführend.
Aber dafür stellt sich die Frage, weshalb gerade diejenigen einen besonderen Respekt vor ihrer Lebensleistung verdienen, die in ihrer Erwerbsphase (freiwillig oder unfreiwillig) besonders wenig zum gesamtwirtschaftlichen Wohlstand beigetragen und deswegen auch nur ein geringes Einkommen erzielt haben (für die Anrechnung von Kindererziehungs- und Pflegezeiten gilt das natürlich nicht).
Andererseits – das ist die Mehrheitsmeinung in der CDU/CSU-Fraktion – soll die geplante Grundrente aber auch ein Instrument gegen Altersarmut sein. In diesem Fall scheint eine Bedürftigkeitsprüfung zwingend, um den Bezug von Grundrente auf jene zu beschränken, die anderweitig nicht abgesichert sind.
Die Grundrente überzeugt nicht - ob mit oder ohne Bedürftigkeitsprüfung
Aber dann ist es nicht überzeugend, gerade diejenigen vom Bezug der Grundrente auszuschließen, die wegen geringer Beitragszeiten (weniger als 35 Jahre) oder wegen Arbeitslosigkeit besonders von Altersarmut bedroht sind. Wie man es dreht und wendet: Die Grundrente überzeugt in der derzeit diskutierten Form nicht, ob mit oder ohne Bedürftigkeitsprüfung.
Schon heute gibt es mit der Grundsicherung im Alter ein wirksames Instrument zur Vermeidung von Altersarmut. Das Argument, dass einige Rentner diese „aus Scham“ nicht in Anspruch nehmen, spricht für eine veränderte organisatorische Ausgestaltung (beispielsweise in Form einer Berechnung durch die Rentenkassen), nicht aber für die Einführung einer zusätzlichen Sozialleistung. Und wenn man der Meinung ist, dass die Grundsicherung im Alter in ihrer Höhe nicht ausreichend ist, Altersarmut zu bekämpfen, dann muss man sie eben anheben.
Noch sinnvoller erscheint es, die Grundsicherung im Alter so auszugestalten, dass sie nur teilweise mit eigenen Rentenansprüchen verrechnet wird, sodass diejenigen, die in der Erwerbsphase Beitragszahlungen geleistet haben, bessergestellt sind als jene, die das nicht (oder in geringerem Umfang) getan haben. Vorschläge hierzu gibt es durchaus – doch kommen diese von der Opposition und sind dadurch für die Koalitionsmehrheit wohl nicht akzeptabel. Leider.
Investitionen in Integration und Bildung
Axel Börsch-Supan ist Professor an der Technischen Universität München und seit Juni 2018 Mitglied in der von der Bundesregierung eingesetzten Rentenkommission „Verlässlicher Generationenvertrag“.
Altersarmut wird in Deutschland daran gemessen, ob eine Person im Alter von mindestens 65 Jahren Grundsicherung erhält. Dies sind derzeit 3,2 Prozent dieser Altersgruppe. Zusätzlich gibt es versteckte Altersarmut unter denen, die zwar Grundsicherung beantragen könnten, dies aber nicht tun.
Die Schätzungen schwanken zwischen einem bis zu vier weiteren Prozent. Schließlich sind ca. 16 Prozent altersarmutsgefährdet. Dies sind Menschen, die Alterseinkünfte erhalten, die weniger als 60 Prozent der Einkünfte betragen, die eine Person genau in der Mitte der deutschen Einkommensverteilung erhält.
Die meisten Menschen mit geringen Alterseinkünften haben in ihrem Leben nur relativ kurze Zeiten mit einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachzuweisen. Hier handelt es sich vornehmlich um drei Gruppen: erstens Menschen, die lange Zeiten ihres Lebens gar nicht für den Arbeitsmarkt zur Verfügung standen, zum Beispiel Hausfrauen, zweitens Langzeitarbeitslose, die lediglich Arbeitslosengeld II bezogen haben, und drittens Erwerbstätige, die keine Sozialversicherungsbeiträge (z.B. als Selbstständige) gezahlt haben.
Die Berechnungsgrundlage der gesetzlichen Rente ist die Zeitdauer aller sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen eines Menschen multipliziert mit dem durchschnittlichen Lohn dieses Menschen. Diese starke Abhängigkeit der gesetzlichen Rente von der Beschäftigungsdauer hat ihre guten Gründe, hat aber zur Konsequenz, dass die gesetzliche Rente kein Instrument ist, das maßgeblich zur Vermeidung von Altersarmut taugt.
Denn Menschen mit einer nur kurzen Zeit einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung hilft es nicht, wenn das Rentenniveau erhöht wird, weil diese Berechnungsgrundlage so niedrig ist, dass auch ein deutlich höheres Rentenniveau ihre Rente nicht auf ein ausreichendes Niveau anheben würde. Erst recht hilft ihnen die geplante Grundrente nicht, denn diese soll ja gerade nur Menschen zustehen, die lange in die Rentenversicherung eingezahlt haben.
Menschen müssen in sozialversicherte Beschäftigung
Um Altersarmut an der Wurzel zu bekämpfen, ist es also vordringlich, Menschen in Arbeit zu bringen, und zwar in sozialversicherte Beschäftigung. Das Lebensmodell von Frauen hat sich stark verändert, sodass die derzeit noch häufige Altersarmut von Frauen mit nur ganz kurzen Beschäftigungszeiten immer seltener wird.
Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist zwar in den letzten Jahren deutlich gesunken, aber immer noch auf einem hohen Niveau. Diese Menschen sind oft gering qualifiziert. Um das Problem an der Wurzel zu bekämpfen, sind also mehr Investitionen in Bildung und Integration nötig.
Was schließlich diejenigen angeht, die zwar beschäftigt waren, aber keine Sozialversicherungsbeiträge gezahlt haben, plant die Bundesregierung eine Versicherungspflicht auch für Selbstständige, um zu vermeiden, dass sich die Altersarmut durch moderne Beschäftigungsformen (Gig-Economy, Plattform-Beschäftigung) weiter erhöht.
Ursachen an der Wurzel zu bekämpfen braucht Zeit. Wenn man die jetzt Altersarmen besserstellen will, muss man den Mut haben, die Grundsicherung im Alter zu erhöhen. Über all dem darf man aber nicht vergessen, dass Familien mit Kindern in Deutschland ein viel größeres Armutsproblem haben als Menschen im Alter.
Ein wirtschaftlich nachhaltiger Generationenvertrag
Marcel Fratzscher leitet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und ist Professor für Makroökonomie an der Berliner Humboldt-Universität.
Soll die Grundrente bedarfsgerecht sein, sodass alle eine stärkere Absicherung haben, würde dies eine Bedürftigkeitsprüfung erfordern, wie von der CDU gefordert? Oder soll sie leistungsgerecht sein und explizit die Lebensleistung besser honorieren, was eine Bedürftigkeitsprüfung ausschließen sollte, wie von der SPD vorgeschlagen? Der aktuelle Streit um die Grundrente offenbart ein großes Dilemma, in dem unser Rentensystem steckt
Derzeit funktioniert das Rentensystem nach dem Äquivalenzprinzip: Wer mehr einzahlt, bekommt später entsprechend mehr monatliche Rente. Es lässt aber zum einen außer Acht, dass Menschen mit geringen Löhnen statistisch eine deutlich geringere Lebenserwartung haben und somit kürzer Rentenleistungen beziehen, sie erhalten also über die Zeit weniger Leistungen in Relation zu ihren Beiträgen. Zum anderen erhalten viele, die in ihrem Leben nur geringe Löhne hatten, im Alter nicht genug zum Leben aus der gesetzlichen Rentenversicherung, um den einfachen Bedarf zu decken.
Die Grundsicherung nehmen viele dennoch nicht in Anspruch, obwohl sie ihnen zustünde – sei es aus Scham, sei es, weil sie nicht wollen, dass ihre Kinder für sie zahlen müssen. Diesen Ungerechtigkeiten will die SPD mit der Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung Abhilfe schaffen – und bringt damit die Koalition zum Wanken. Eine Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung käme vielen zugute.
Viele sehen aber darin auch neue Ungerechtigkeiten: Vermögende wie Immobilienbesitzer, die aber wenige Ansprüche an die gesetzliche Rentenversicherung haben, erhalten diese Grundrente; andere, die ihr Leben lang nicht allzu viel verdient haben, aber knapp oberhalb der Grenze zur Grundrente liegen, aber nicht. Gerechtigkeit funktioniert nie für alle. Dennoch ist es sinnvoll, das bisherige Äquivalenzprinzip zu reformieren und die Grundrente einzuführen - auch wenn sie alles andere als perfekt ist.
Solange nahezu die Hälfte der Bevölkerung keine Mittel hat, um in Aktien oder Immobilien zu investieren, wird diese Hälfte auch im Alter Probleme der Existenzsicherung haben.
schreibt NutzerIn Tobias_Johst
Der Gerechtigkeitsaspekt ist wichtig
Für den Gerechtigkeitsaspekt ist jedoch auch wichtig, wer die Lasten dieser Reform trägt. Egal, ob sie über Steuern oder Beiträge finanziert wird, werden die jüngeren Generationen zahlen müssen. Doch diese können ohnehin schon aufgrund geringer Geburtenraten und steigender Lebenserwartung nur schwer die Renten der Babyboomer-Generation schultern. Es findet also eine noch stärkere Umverteilung von Jung zu Alt als bisher statt.
Die Debatte um die Grundrente darf sich also nicht nur darauf beschränken, wie die Rente für die jetzige Rentnergeneration gerechter verteilt wird. Es muss auch der Generationenvertrag zwischen Alt und Jung neu verhandelt und so gestaltet werden, dass er nicht nur gerecht, sondern auch wirtschaftlich nachhaltig ist.
Aus dem Gerechtigkeitsdilemma der Rente werden wir nur herausfinden, wenn wir den Arbeitsmarkt reformieren. Es wird darauf ankommen, dass so viele Menschen wie möglich erwerbstätig sind und dass sich ihre Stellung auf dem Arbeitsmarkt und ihre Einkommen verbessern.
Wir werden also bei der Bildung ansetzen müssen, um möglichst viele junge Menschen mit einem qualifizierten Schulabschluss in den Arbeitsmarkt zu schicken. Wir müssen zudem die Sozialpartnerschaften stärken, Langzeitarbeitslose besser in den Arbeitsmarkt integrieren und das Ehegattensplitting abschaffen, um weniger Beschäftigte auf Teilzeitjobs zu beschränken. Dadurch entstehen mehr wirtschaftliche Leistungen, und die Umverteilung von Jung zu Alt kann auf mehr Schultern verteilt werden.
Alternativen zur Altersarmut
Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrte bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Soeben erschien sein Buch „Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland“
Um die Altersarmut wirksam bekämpfen zu können, muss man wissen, warum sie stetig zunimmt. Es gibt dafür zwei Ursachenbündel, die beide mit falschen Weichenstellungen seitens der Regierungspolitik zu tun haben: die während der vergangenen Jahrzehnte erfolgte Demontage der Gesetzlichen Rentenversicherung und die Deregulierung des Arbeitsmarktes im Zuge der „Agenda“-Reformen.
Zu 1: Man hat die ohne Bedürftigkeitsprüfung ausgestaltete Rente nach Mindestentgeltpunkten im Jahr 1992 auslaufen lassen, das gesetzliche Renteneintrittsalter für Frauen und später für alle Beschäftigten angehoben sowie Abschläge bei vorzeitigem Rentenzugang eingeführt. Mit der Riester-Reform war eine Teilprivatisierung der Altersvorsorge verbunden, und auch mit dem Nachhaltigkeitsfaktor wurde das Rentenniveau schrittweise abgesenkt.
Zu 2: Genannt seien nur die Lockerung des Kündigungsschutzes, die Einführung von Mini- bzw. Midijobs und die Liberalisierung der Leiharbeit. Mit den prekären Beschäftigungsverhältnissen im wachsenden Niedriglohnsektor wurde Millionen Menschen die Möglichkeit genommen, ausreichend hohe Rentenanwartschaften aufzubauen.
Um das Problem zu lösen, müssten einerseits die sog. Dämpfungsfaktoren aus der Rentenanpassungsformel entfernt, die Riester-Rente rückabgewickelt und die Anhebung der Regelaltersgrenze gestoppt werden. Andererseits wäre der gesetzliche Mindestlohn deutlich zu erhöhen, die Tarifbindung der Unternehmen sollte gestärkt und Mini- wie Midijobs müssten in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse überführt werden.
Den erheblichen Veränderungen am Arbeitsmarkt sollte auch durch eine Stärkung der Gesetzlichen Rentenversicherung und eine Ausdehnung der Versicherungspflicht Rechnung getragen werden. Da abhängige und selbstständige Arbeit, Selbstständigkeit und sog. Scheinselbstständigkeit fließend ineinander übergehen, bedarf es einer Versicherungspflicht aller Erwerbstätigen, einschließlich jener Gruppen, die bislang in Sondersystemen bzw. zu besonderen Bedingungen abgesichert werden (Beamte, Landwirte, Handwerker/innen, Künstler/innen und freie Berufe).
Es braucht eine solidarische Bürger- bzw. Erwerbstätigenversicherung
Eine solidarische Bürger- bzw. Erwerbstätigenversicherung würde dem Rechnung tragen. Zwischen ökonomisch unterschiedlich Leistungsfähigen muss sie einen sozialen Ausgleich herstellen. Nicht bloß auf Löhne und Gehälter, sondern auf sämtliche Einkunftsarten – also auch Einkünfte aus Kapitalvermögen: Zinsen, Dividenden sowie Miet- und Pachterlöse – sind Beiträge zu erheben.
Entgegen einem verbreiteten Missverständnis bedeutet dies nicht, dass Arbeitgeberbeiträge entfallen. Vielmehr könnten diese als Wertschöpfungsbeitrag erhoben und damit gerechter als bisher auf beschäftigungs- und kapitalintensive Unternehmen verteilt werden.
Nach oben darf es weder Beitragsbemessungs- noch Versicherungspflichtgrenzen geben, die es privilegierten Personengruppen erlauben würden, sich ihrer Verantwortung für sozial Benachteiligte zu entziehen und in exklusive Sicherungssysteme auszuweichen.
Joachim Ragnitz, Axel Börsch-Supan, Marcel Fratzscher, Christoph Butterwegge