Tabubruch in Ankara: Vier Abgeordnete erscheinen mit Kopftuch im Parlament
Zum ersten Mal seit 14 Jahren wagten es Parlamentarierinnen in der Türkei, gegen das Kopftuchverbot zu verstoßen. Der Protest der Säkularistenpartei folgte prompt. Doch anders als erwartet.
Kurz nach Mittag war es so weit. Die Politikerinnen Nurcan Dalbudak, Gülay Samanci, Sevde Beyazit Kacar und Gönül Bekin Sahkulubey betraten am Donnerstag das Plenum des türkischen Parlaments in Ankara mit ihren islamischen Kopftüchern – und brachen ein Tabu. Das Kopftuchverbot in öffentlichen Institutionen der türkischen Republik ist mit ihrer Aktion endgültig Geschichte. Zum ersten Mal seit 14 Jahren wagten es Abgeordnete, gegen das ungeschriebene Kopftuchverbot zu verstoßen.
Damals gab es einen Eklat, diesmal blieb es bei Protestreden der Säkularistenpartei CHP gegen die Aktion der Politikerinnen von der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Parlamentspräsident Cemil Cicek sprach von einem historischen Tag. Der in Großbritannien lebende Türkei-Experte Ziya Meral kommentierte, es sei eine „Ära der Schande“ für die Türkei zu Ende gegangen.
Im Frühjahr 1999 war die islamistische Abgeordnete Merve Kavakci zur Vereidigung im Kopftuch im Plenum aufgetaucht. Lautstarke Proteste der Säkularisten zwangen sie zum Rückzug; danach verlor sie nicht nur ihr Mandat, sondern auch ihren türkischen Pass: Kavakci wurde erst aus dem Parlament und dann aus dem Land geworfen.
Die Hardliner wollten auf die Barrikaden gehen
Dabei gibt es in der Geschäftsordnung des Parlaments kein Kopftuchverbot. Paragraf 56 schreibt lediglich vor, dass Männer Anzug und Krawatte und Frauen ein Kostüm zu tragen haben. Das Verbot des Kopftuchs war eine Konsequenz der säkularistischen Staatsideologie, die den Islam aus dem öffentlichen Leben verdrängen will. Mit der Herrschaft der islamisch-konservativen AKP und der Entmachtung der Armee hat diese Ideologie in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung verloren. Damit waren auch die Tage des unausgesprochenen Kopftuchverbotes im Parlament gezählt.
Hardliner in der CHP wollten gegen die Kopftuchfreiheit auf die Barrikaden gehen – doch es blieb bei symbolischen Aktionen und kritischen Reden. Eine CHP-Politikerin erschien in einem T-Shirt, das Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk zeigte. Die CHP-Abgeordnete Safak Pavey warf der Regierung vor, sich beim Thema Kopftuch als Vorkämpfer für mehr Demokratie zu präsentieren, aber bei anderen Themen zu versagen. „Warum sind wir denn weltweit Schlusslicht bei den Freiheitsrechten?“ fragte sie.
Die vier Politikerinnen, die ihr Kopftuch mit ihren persönlichen Freiheitsrechten begründeten, hätten sich in ihrer Parlamentskarriere noch nie für die Rechte Anderer eingesetzt, sage Pavey. Sie erwarte von ihnen nun, dass sie sich für Frauen einsetzten, die zum Beispiel wegen ihres Minirocks entlassen worden seien. Die AKP argumentiert, es sei ungerecht, Frauen mit Kopftuch den Zugang zum Plenum zu verwehren.
Politische Gegner begrüßten den Ende des Streits
Erdogan hatte das Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst der Türkei im Rahmen eines Reformpakets im vergangenen Monat aufgehoben. Er hofft auf den Dank seiner konservativen Wählerschaft bei den Kommunalwahlen im März und der Präsidentschaftswahl im nächsten Sommer, bei der er Staatsoberhaupt werden will. Mit dem Schritt der vier AKP-Abgeordneten sei das Kopftuchproblem „unter dem Dach des Parlaments gelöst worden“, sagte die Kurdenpolitikerin Pervin Buldan.
Politische Konkurrenten der AKP wie Buldan begrüßen das Ende des Kopftuchstreits unter anderem deshalb, weil die Regierungspartei ab sofort ein Thema weniger hat, mit dem sie sich bei konservativen Wählern profilieren kann. Und auch in den Reihen der CHP deutet sich derzeit eine liberalere Haltung beim Thema Kopftuch an. Mustafa Sarigül, der voraussichtliche Kandidat der Partei für den Bürgermeisterposten in Istanbul, der von einigen Beobachtern als künftiger Parteichef gehandelt wird, sagte vor einigen Tagen, die Partei müsse für alle Frauen offen sein, unabhängig von deren religiösen Ansichten.
Thomas Seibert