Folgen des Krieges für die EU: „Viele Familien können ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen“
Die EU muss angesichts der hohen Preise einen Ausgleich schaffen. Das fordert die Fraktionschefin der Sozialdemokraten im EU-Parlament, Iratxe García Pérez.
Die Spanierin Iratxe García Pérez ist Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im EU-Parlament. Im Interview mit dem Tagesspiegel spricht die Politikerin der Madrider Regierungspartei PSOE über den Angriff auf die Ukraine, die Folgen für Europas Verbraucher und die Verteilung der Flüchtlinge auf dem Kontinent.
Frau García Pérez, in der Ära von Wladimir Putin kam es 2008 erst zum Angriff auf Georgien, dann zur Intervention in Syrien, danach gerieten afrikanische Staaten wie Libyen ins Visier. Jetzt greift Putin nach der Ukraine. Hätte die EU die Invasion nicht kommen sehen können?
Schon seit langem ist der EU bewusst, dass wir es bei Russland mit einem Nachbarn zu tun haben, der unsere Werte nicht teilt. Es ist klar, dass es bei Putins gegenwärtiger Invasion in der Ukraine nicht nur um Russlands territoriale Ausdehnung geht. Es ist auch ein Angriff auf unsere Werte als Europäer.
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War die EU in den vielen Jahren vor dem Angriff auf die Ukraine zu naiv gegenüber Putin?
Man musste ja eine Art Kooperation mit dem Nachbarn Russland aufrecht erhalten. Uns Europäern ist schon lange bewusst, dass in einer komplexen geopolitischen Lage unsere Werte wie Demokratie und Freiheit längst nicht in allen Weltregionen geteilt werden. Darauf hat die EU vielleicht nicht schnell genug reagiert. Aber entscheidend ist, dass Dinge wie eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik jetzt vorankommen. Das ist ein Schlüssel dafür, dass die EU eine geopolitische Rolle spielt.
Wenn man sich die von der EU gegen Russland bisher verhängten Sanktionen anschaut, so bietet die Gemeinschaft ein Bild der Geschlossenheit. Gleichzeitig leistet sich die EU aber auch Kommunikationspannen. So stellte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell die Aufstockung der Rüstungshilfe für die Ukraine um weitere 500 Millionen Euro als mehr als weniger beschlossene Tatsache dar – und löste damit bei den Mitgliedstaaten Verärgerung aus.
Der nächste geplante EU-Gipfel am 24. und 25. März wird für diese Frage zum Moment der Entscheidung werden. Am Ende des Gipfels brauchen wir jedenfalls Klarheit. In der Zwischenzeit ist es aber normal, dass unter den Mitgliedstaaten erst einmal eine Debatte über die weitere Aufstockung der Militärhilfe für die Ukraine geführt wird.
Die EU-Staaten diskutieren auch über einen völligen Importstopp für Öl, Gas und Kohle aus Russland. Sollte ein solcher Importstopp verhängt werden?
Wir haben in den vergangenen Wochen bereits eine Reihe von schwer wiegenden Sanktionen gegen Russland verhängt. Unser Ziel besteht darin, großen Druck auf Russland auszuüben. Wir haben die Möglichkeit, in den kommenden Wochen auch noch weiter zu gehen als bisher. Dabei kann man nichts ausschließen. Aber gleichzeitig müssen wir die Energieversorgung für die EU sicherstellen.
Der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis hat sich für Marktinterventionen beim Gaseinkauf ausgesprochen. Damit die Energiepreise bezahlbar bleiben, plädiert er für eine Deckelung bei den Großhandelspreisen für Gas. Halten Sie dies für sinnvoll?
Wir müssen in der Tat dringend handeln. Die sozialen Folgen der steigenden Energiepreise können noch dramatische Ausmaße annehmen. Viele Familien in der EU können ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen. Die täglichen Preissteigerungen sind völlig inakzeptabel. Deshalb weist ein Vorschlag wie der des griechischen Ministerpräsidenten in die richtige Richtung.
Eine Deckelung der Einkaufspreise sollte auf europäischer Ebene entschieden werden?
Das muss auf europäischer Ebene geregelt werden, weil Dinge wie die Kopplung des Strompreises an den Gaspreis auf EU-Ebene entschieden werden. Wir fordern, dass Gas in der gegenwärtigen Lage vorübergehend nicht mehr zur Grundlage der Preisgestaltung herangezogen wird.
Befürchten Sie in Spanien Gelbwesten-Proteste, wie sie Frankreich vor einigen Jahren erlebte?
Wir müssen in der gegenwärtigen Lage gegensteuern. Die Situation hat ja nicht nur Auswirkungen auf die Energiepreise. Es geht auch um die Versorgungssicherheit bei Lebensmitteln, einen absehbaren Wachstumseinbruch mit Folgen für den Arbeitsmarkt. All dies wird soziale Auswirkungen haben.
Ex-Kanzler Gerhard Schröder, der zu Ihrer Parteienfamilie gehört und Führungspositionen bei den russischen Staatskonzernen Rosneft und Gazprom innehat, hat sich in Moskau zu einem mutmaßlichen Vermittlungsversuch aufgehalten. Wie bewerten Sie Schröders Rolle?
Erstens: Sein Aufenthalt in Moskau war seine persönliche Entscheidung. Niemand hat ihn gebeten, dies zu tun. Zweitens: Es ist schwer zu verstehen und zu erklären, warum er die Verbindungen zu den russischen Firmen und Oligarchen nicht kappt.
Der Migrationsforscher Gerald Knaus hat vorgeschlagen, zur Verteilung der Ukraine-Flüchtlinge in der EU eine Luft- und Zugbrücke einzurichten. Seinem Vorschlag zufolge soll bis Ende des Monats unter anderem Frankreich 160.000 Flüchtlinge aufnehmen. Spanien und Portugal sollen demnach 140.000 Flüchtlingen Schutz gewähren. Was halten Sie davon?
Aber das ist kein neuer Vorschlag. Wir unterstützen derartige Vorschläge schon seit langem. Ich spreche dabei nicht von ukrainischen Flüchtlingen, sondern von allen Flüchtlingen in Europa. Als die Länder im Süden unter Druck standen, haben wir eine Umverteilung der Flüchtlinge in der EU verlangt. Und bei dieser Linie bleibt meine Fraktion. Deswegen befürworten wir auch eine Verteilung der Flüchtlinge aus der Ukraine. Und einige Länder, die in der Vergangenheit mit Blick auf sämtliche Flüchtlinge in der EU eine Umverteilung blockiert haben, sollten jetzt vielleicht umdenken.
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Und was sagen Sie zum konkreten Vorschlag mit den genannten Mindestzahlen bei der Aufnahme von Flüchtlingen in Spanien, Portugal oder Frankreich?
Die Zahlen ändern sich jeden Tag. Stand heute sind 2,8 Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen. Wenn man einen Verteilschlüssel in der EU etabliert, dann müsste das von sämtlichen Ländern akzeptiert werden. Es müssten auch Kriterien wie die Wirtschaftskraft der Aufnahmeländer und Beschäftigungsmöglichkeiten zu Grunde gelegt werden. Es ist jedenfalls von großer Bedeutung, dass die EU vor zwei Wochen die Massenzustrom-Richtlinie aktiviert hat. Damit haben die Flüchtlinge aus der Ukraine Rechte wie Gesundheitsversorgung, Arbeitsaufnahme und Bildung überall in der EU.