EU-Gipfel in Versailles: „Tektonische Veränderung“ in Europa
Auch wenn die EU militärisch nicht in den Krieg involviert ist, steht die Gemeinschaft vor großen Veränderungen. Das dürfte der Gipfel von Versailles zeigen.
Der Gipfelort weckt zwiespältige Erinnerungen. Ausgerechnet in Versailles, wo die Nachkriegsordnung nach dem Ersten Weltkrieg besiegelt wurde, findet an diesem Donnerstag und Freitag ein zweitägiger Gipfel unter der gegenwärtigen französischen EU-Ratspräsidentschaft statt.
Auch diesmal geht es um Krieg und Frieden. Auch wenn die Nato - und damit die EU - militärisch nicht in den Konflikt involviert ist, so hat Russlands Überfall auf die Ukraine doch tief greifende Veränderungen für die Gemeinschaft der 27 europäischen Mitgliedstaaten zur Folge. So steht es auch im Entwurf der Gipfelerklärung, der dem Tagesspiegel vorliegt: „Russlands Aggressionskrieg stellt eine tektonische Veränderung in der europäischen Geschichte dar.“
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Zunächst einmal geht es in Versailles um die geopolitisch bedeutsame Frage, wie sich die EU mittelfristig aus der Abhängigkeit von russischen Energieimporten befreien kann. Die EU-Kommission hat am Dienstag zu diesem Zweck einen Plan vorgelegt. Er zielt unter anderem darauf ab, russische Gasimporte innerhalb eines Jahres um zwei Drittel zu reduzieren.
Aber nicht nur beim Gas, sondern auch bei den Lieferungen von Öl und Kohle will die EU langfristig unabhängiger von Moskau werden. Laut dem Entwurf der Versailler Gipfel-Schlussfolgerungen soll die Abhängigkeit von russischem Gas, Öl und Kohle durch eine Reihe von Maßnahmen beendet werden.
Demnach wollen sich die Staats- und Regierungschefs der EU unter anderem dazu verpflichten, den Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen zu beschleunigen. Zudem soll die Diversifizierung bei den Energiequellen durch die Verwendung von Flüssiggas (LNG) und den Ausbau der Versorgung mit Biogas und Wasserstoff vorangetrieben werden.
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Laut dem Entwurf der Gipfel-Schlussfolgerungen wollen die 27 EU-Staaten mehr Tempo beim Ausbau der erneuerbaren Energien machen. Zudem sprechen sich die Staats- und Regierungschefs dafür aus, Genehmigungsverfahren zu vereinfachen. Bei der Vorstellung der Pläne für eine größere Versorgungssicherheit hatte Energiekommissarin Kadri Simson am Dienstag bemängelt, dass die Genehmigung zum Bau eines Windparks derzeit im Schnitt sieben Jahren dauere.
Debatte um Eingriffe in den Energiemarkt
Derweil gibt es innerhalb der EU eine kontroverse Debatte darüber, wie die Verbraucher vor den hohen Energiepreisen geschützt werden können, die nach der russischen Invasion noch einmal gestiegen sind. Der griechische Regierungschef Kyriakos Mitsotakis forderte in einem Brief an Kommissionschefin Ursula von der Leyen, die Großhandelspreise beim Gaseinkauf europaweit zu deckeln. Um die Kosten für die Verbraucher kurzfristig abzufedern, sei eine „gezielte und vorübergehende Marktintervention“ notwendig, schrieb Mitsotakis. Auch Spanien befürwortet Interventionen am Markt. Allerdings ist offen, ob die beiden Länder beim Gipfel die Unterstützung einer Mehrheit finden.
Weitere Sanktionen gegen Oligarchen und belarussische Banken
Formel beschließen will der Gipfel auch weitere Sanktionen, die in dieser Woche gegen Russland und Belarus in die Wege geleitet worden sind. Die neuen Strafmaßnahmen richten sich gegen weitere russische Vertreter und Oligarchen. Außerdem sollen drei belarussische Banken vom internationalen Zahlungssystem Swift ausgeschlossen werden.
Bereits vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine hatte Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron geplant, mit dem Gipfel von Versailles ein Zeichen für eine größere Unabhängigkeit der EU in der Verteidigungspolitik zu setzen. Das spiegelt sich nun auch in der Gipfelerklärung wider.
Dem Entwurf zufolge will der Gipfel zwar betonen, dass die transatlantischen Beziehungen sowie die Kooperation zwischen EU und Nato eine Schlüsselrolle für die gemeinsame Sicherheit spielen. Gleichzeitig wird aber - ganz im Sinne Macrons - ein Ausbau der europäischen Verteidigungskapazitäten als Ergänzung zur Nato gefordert.
Dazu soll beim Gipfel eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben befürwortet werden. Gleichzeitig wird noch einmal an den Artikel 42 des EU-Vertrages erinnert, der nach den Terroranschlägen von Paris im Jahr 2015 schon einmal vom damaligen französischen Präsidenten François Hollande aktiviert worden war.
Es war das erste Mal in der Geschichte der EU, dass die Klausel genutzt wurde. Sie sieht zwar - anders als bei der Nato - keine zwingende militärische Beistandspflicht unter den EU-Staaten vor. Die Länder der Gemeinschaft sind aber im Artikel-42-Fall angehalten, „alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung“ bei einem Angriff zur Verfügung zu stellen.
Polen will auf Kandidatenstatus für Ukraine dringen
Derzeit prüft die EU-Kommission den Antrag der Ukraine für eine Aufnahme in die EU. Das Gipfel-Kommuniqué macht der Ukraine allerdings keine Hoffnung auf einen baldigen Beitritt. Die Partnerschaft mit Kiew solle vertieft werden, heißt es lediglich. Bereits beim letzten Gipfel unmittelbar nach dem russischen Angriff hatte sich die Gemeinschaft dafür ausgesprochen, die „europäischen Bestrebungen“ der Ukraine anzuerkennen.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj fordert indes ein Schnellverfahren zur Aufnahme seines Landes, doch dies ist rechtlich in der EU nicht vorgesehen. Nach den Angaben von EU-Diplomaten dürften aber Polen und andere osteuropäische Mitglieder in Versailles darauf dringen, der Ukraine so rasch wie möglich den Status eines EU-Beitrittskandidaten zu verleihen.