Europawahl: Vertraut wie ein alter Pulli
Die Bürger der Europäischen Union stehen vor einer Wahl in kritischen Zeiten. Trotzdem geben sie sich gefährlichen Illusionen hin. Ein Kommentar.
Ist es mit dem Thema Europa wie mit dem Klimaschutz? Muss die junge Generation die ihrer Eltern und Großeltern erst lautstark aus den Sesseln treiben, damit die den Ernst der Lage erkennen? Egal ob „Friday for Future“ oder „Pulse of Europe“, es sind vor allem die unter Dreißigjährigen, die der Politik Dampf machen. Das Erste Deutsche Fernsehen veranstaltet zur besten Sendezeit ein Rede-Duell der beiden Spitzenkandidaten der europäischen konservativen Parteien und der Sozialdemokraten, und hat gerade einmal knapp über zwei Millionen Zuschauer. Die Tagesschau unmittelbar davor schauten noch 1,89 Millionen TV-Seher mehr an.
Oder, anders herum betrachtet: so viele stiegen aus, als sie die Ankündigung der ARD-Wahlarena mit Manfred Weber und Frans Timmermans sahen. Und in der Sendung selbst waren es auch wieder vor allem die Jungen unter den 130 repräsentativ ausgewählten Studiogästen, die die wirklich drängenden Fragen stellten.
Woher kommt dieses Phlegma? Natürlich ist eine solche politische Fernsehdiskussion allenfalls verbal ein Tatort, und auch das nur eher selten. Vor allem von nicht mit der deutschen Sprache aufgewachsenen Zuhörern fordern langatmige Bandwurmsätze à la Weber große Konzentration ab – da kann man die Neigung zum Abschalten verstehen. Aber wenn Themen wie Migration, Umweltschutz, sichere Grenzen und die Besteuerung internationaler Konzerne zur Diskussion stehen, geht das doch wirklich alle an.
Schon vergessen, oder vielleicht überhaupt noch nicht realisiert? Die Bürgerinnen und Bürger der noch 28 Staaten der Europäischen Union stehen vor einer Wahl in kritischen Zeiten. Großbritannien lässt seine Stimmberechtigten überhaupt nur noch an die Wahlurnen, weil die Regierung den angestrebten Austritt aus der EU nicht hinbekommt. In Ungarn, Polen, Rumänien, Italien, Frankreich und auch Deutschland wollen Parteien Bewerber um ein Mandat ins Europäische Parlament schicken, deren vorrangiges Interesse nicht eine Stärkung, sondern eine Demontage der Souveränität des Abgeordnetenhauses ist. Und dennoch ist in vielen Staaten, auch bei uns, das Interesse an dieser Wahl immer noch deutlich geringer als bei nationalen Abstimmungen.
Warum? Die Deutschen nehmen Europa wie selbstverständlich. Sie profitieren davon auch ganz direkt. So flossen allein nach Brandenburg in den letzten Jahren fast neun Milliarden Euro Wirtschaftsförderung. Kein Wunder, dass die Deutschen noch einer neuen Umfrage europa-zugewandter sind als die Menschen in den meisten anderen EU-Ländern.
Für uns ist Europa wie ein gemütlicher, wärmender alter Pullover. Der war schon immer da, und von dem weiß man, wo er liegt. Aber das ist eine gefährliche Illusion. Wenn sich nicht nur die Deutschen, sondern auch die Europäer, im Vertrauen darauf, dass schon alles so bleiben wird, für diese Wahl nicht interessieren, könnten sie plötzlich im kalten Wind dastehen. Gegen den schützt der alte Pulli nicht mehr. Denn die, die Europa hassen und es zerstören wollen, die gehen zur Wahl. Ganz sicher.
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