TV-Duell Sigmar Gabriel vs. Marietta Slomka: Verstößt das SPD-Mitgliedervotum gegen die Verfassung?
SPD-Chef Sigmar Gabriel gerät mit ZDF-Moderatorin Marietta Slomka aneinander: Ist der Mitgliederentscheid der Sozialdemokraten über den Koalitionsvertrag verfassungsrechtlich bedenklich oder nicht? Einige Verfassungsjuristen jedenfalls haben Bedenken.
Ein Interview mit SPD-Chef Sigmar Gabriel im „heute-journal“ am Donnerstagabend erhitzt die Gemüter . Es ging um den SPD-Mitgliederentscheid zum Koalitionsvertrag und die Frage, ob er verfassungsrechtlich bedenklich sein könnte. Weil sich das Interview zu einem offenen Schlagabtausch zwischen Gabriel und Moderatorin Marietta Slomka entwickelte, geriet das Ausgangsthema ein wenig in den Hintergrund. Wir rücken es hier noch einmal in den Vordergrund.
Was ist passiert?
Das Interview beginnt holprig. Von der Basiskonferenz in Hofheim aus wird Gabriel zum Gespräch mit Slomka geschaltet, gleich die erste Frage nach „Gegenwind“ der Basis zum Koalitionsvertrag lässt den SPD-Chef die Stirn in Falten legen. Als es dann um die Bedenken geht, die insbesondere der Leipziger Verfassungsrechtler Christoph Degenhart zum SPD-Mitgliederentscheid geäußert hat, kippt die Stimmung völlig. Gabriel hält die Bedenken für „Blödsinn“. Und verweist darauf, dass bei CDU und CSU ein viel kleinerer Personenkreis über den Koalitionsvertrag entscheide. Ob das demokratischer sei? Auch die Frage, ob die SPD-Basis ihren Abgeordneten jetzt das Abstimmungsergebnis im Bundestag vorschreibe und ihnen damit die Wahlfreiheit nehme, hält er für „völlig falsch“.
Um was geht es eigentlich?
Staatsrechtler Degenhart bekräftigte am Freitag im Gespräch mit dem Tagesspiegel seine „verfassungsrechtlichen Bedenken“ zum SPD-Mitgliederentscheid. Diese beziehen sich auf den Artikel 38 des Grundgesetzes, wo es heißt, die Abgeordneten seien „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden“. Zwar kann auch nach Degenharts Ansicht „die SPD befragen wen und zu was sie will“. Doch der Mitgliederentscheid über den Koalitionsvertrag habe zu stark „das Gewicht eines unmittelbaren Auftrages der Parteibasis an die Abgeordneten“. Das Basis-Votum gebe das Abstimmungsverhalten bei der Kanzlerwahl im Bundestag vor. Degenhart sieht eine „Nähe zum imperativen Mandat, die das Grundgesetz nicht will“. Bedenken, dass die Regierungsbildung auf verfassungswidrigem Wege zustande kommen könnte, hat er aber nicht. Man müsse „Entwicklungen benennen, wenn sie sich anbahnen“. Das eigentliche Problem sei ohnehin die große Koalition; dort habe der einzelne Abgeordnete sehr wenig Gewicht, da fast immer eine Mehrheit gesichert sei – trotz Abweichlern in den eigenen Reihen.
Hier der einzelne Abgeordnete – dort die Partei, das ist ein Spannungsfeld, das im politischen System angelegt ist. So sieht es auch der Berliner Staatsrechtler Christian Pestalozza. Neben der rechtlichen Unabhängigkeit des Abgeordneten gibt es eben politische Notwendigkeiten, die gegeneinander austariert werden müssen. Pestalozza sieht das Problem weniger in der SPD-Mitgliederbefragung als vielmehr darin, dass die Parlamentarier den Koalitionsvertrag nicht selbst ausgehandelt haben, an den sie sich dann halten sollen. Allerdings ist ein Koalitionsvertrag eine Absichtserklärung der politischen Parteien, zusammenarbeiten zu wollen. Rechtlich bindend ist er nicht. Der einzelne Abgeordnete bleibt also seinem Gewissen unterworfen. Pestalozza schlägt vor, dass künftig die Abgeordneten der Fraktionen den Koalitionsvertrag verhandeln.
Wie steht das Staatsrecht zur Rolle der Parteien?
Der Einfluss der Parteien in der Ordnung des Grundgesetzes ist ein klassisches Thema der Staatsrechtslehre. Meist ist er in der öffentlichen Diskussion negativ besetzt, die Parteien machten sich den Staat zur Beute heißt es oft. Parteien sind in der Tat keine Staatsorgane wie Bundestag oder Bundesregierung. Sie haben dennoch Verfassungsrechte. „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“, heißt es in Artikel 21, der auf die politische Grundnorm – Artikel 20 – folgt, der die Bundesrepublik zu einer Demokratie macht, in der alle Staatsgewalt vom Volk auszugehen hat. Die enge Verschränkung zeigt, für wie bedeutsam das Grundgesetz Parteien hält. Die Redeweise von der „Parteiendemokratie“ trifft deshalb zu. Die Aufgabe der Parteien erschöpft sich auch nicht darin, Personal für Wahlen bereitzustellen. Das Bundesverfassungsgericht hat sie als „notwendigen Bestandteil“ der freiheitlichen Grundordnung charakterisiert und ihre Stellung im Gefüge im Laufe der Jahre gestärkt. So können Parteien – wie jeder Bürger – eine Verfassungsbeschwerde erheben oder – wie ein Staatsorgan – einen Organstreit in Karlsruhe anstrengen. Dies verdeutlicht ihre Position als zentraler Akteur zwischen Staat und Gesellschaft.
Die Einflussnahme ist folglich gewollt, jedenfalls bis zu einer gewissen Grenze. Mit dem SPD-Mitgliederentscheid dürfte sie kaum erreicht sein. Der Koalitionsvertrag entfaltet eine ausschließlich politische Bindung. Übrigens nicht nur für Abgeordnete, sondern auch für die Bundeskanzlerin. Schließlich ist sie es, die laut Grundgesetz eigentlich die „Richtlinien der Politik“ bestimmt. Nun sollte auch sie sich an den Koalitionsvertrag halten. Tut sie es nicht, wird dies sanktioniert – durch den Bruch der Koalition, nicht durch das Verfassungsgericht.
Wie wirkt sich das TV-Interview auf das politische Image von Sigmar Gabriel aus?
Etwas besseres hätte ihm kaum passieren können. Er steht in der Halle, wo er zuvor mit Standing Ovations empfangen wurde und die Mitglieder auf eine große Koalition eingeschworen hat, um ihn herum versammeln sich einige Genossen. In dieser Situation macht eine Moderatorin den Genossen ihren Mitgliederentscheid madig. Gabriel wettert dagegen – es wird ihm Punkte an der eigenen Basis bringen nach dem Motto: Endlich zeigt es „der Sigmar“ den bösen Journalisten mal. Es ist auch eine Frage der politischen Perspektive: Anhänger anderer politischer Lager werden vermutlich Gabriel eher als aufbrausend und dünnhäutig empfunden haben.
Der "Bild am Sonntag" sagte der SPD-Vorsitzende: "Frau Slomka hat mich sozusagen mit "verstärkter Höflichkeit" befragt und das darf sie auch. Und ich habe mit "verstärkter Höflichkeit" geantwortet". Einen Grund für eine Entschuldigung bei Slomka wegen der Auseinandersetzung über die Zulässigkeit der SPD-Mitgliederbefragung über den Koalitionsvertrag sieht Gabriel nicht. Seinen Vorwurf aus der Sendung, dass die ZDF-Moderatorin SPD-Politikern die Worte im Mund herumdrehe, erhielt er aufrecht: „Die Art und Weise, wie Frau Slomka zum Beispiel im Wahlkampf mit unserem Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück in einem Interview umgegangen ist, liefert ausreichend Anschauungsmaterial dafür. Aber noch mal: Das darf sie alles. Aber wir dürfen dann auch offen darüber reden. Meinungsfreiheit gilt für alle.“
Er erhält auch Unterstützung sowohl von der Linkspartei als auch vom Koalitionspartner in spe. CSU-Chef Horst Seehofer wandte sich in einem Brief an das ZDF. „Ich wehre mich gegen diese Qualität der Diskussion“, begründete Seehofer, der im Verwaltungsrat des Mainzer Senders sitzt, das Schreiben. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen den SPD-Mitgliederentscheid wies er als „absurd“ zurück – und sagte mit Blick auf die Abstimmungsprozesse in der Union: „Wenn ein Mitgliederentscheid verfassungsrechtlich fragwürdig ist, dann sind's unsere Veranstaltungen gleich doppelt und dreifach.“ Bei der CDU entscheidet ein kleiner Parteitag über den Koalitionsvertrag, bei der CSU tun dies der Vorstand und die CSU-Bundestagsmitglieder.
(mit dpa)