Leichtsinn während der Pandemie: Verspielt Deutschland seinen Erfolg bei der Corona-Bekämpfung?
Wilde Partys, fehlende Masken, kaum Kontrollen von Reiserückkehrern aus Urlaubsländern – die Zahl der Neuinfektionen steigt. Was das für das Land bedeutet.
Die Warnsignale sind deutlich: Tausende Menschen, die in der Neuköllner Hasenheide ausgelassen feiern. Urlauber, die im Ausland Corona-Regeln ignorieren. Betriebe, die die Hygienevorschriften nicht beachten. Zu selten Masken in Bus und Bahnen. Und: neue Hotspots, in Bayern aber auch in Berlin-Lichtenberg.
Während andere Länder noch nicht einmal die erste Corona-Welle überstanden haben, konnte man sich in Deutschland in den vergangenen Wochen über niedrige Infiziertenzahlen freuen.
Doch jetzt steigt die Zahl der Neuinfektionen auch hierzulande wieder an. Der Grund dafür: Corona-Leichtsinn - bei Bevölkerung und Politik. Drohen die Deutschen ihre hart erkämpften Erfolge bei der Corona-Bekämpfung zu verspielen?
Gesundheitsminister Jens Spahn hat am Montag reagiert. Er werde „eine Testpflicht für Einreisende aus Risikogebieten anordnen“.
Was sagen die Zahlen?
Das Robert-Koch-Institut (RKI) meldete am Dienstagmorgen 633 Neuinfektionen für den Montag. In den Tagen davor waren Zahlen deutlich höher: 815 neue Fälle am Freitag, am Samstag weitere 781. Das RKI ist alarmiert. „Die Zahl der täglich neu übermittelten Fälle war in den letzten Tagen bereits angestiegen“, hieß es dazu. Diese Entwicklung sei sehr beunruhigend. Eine weitere Verschärfung der Situation müsse unbedingt vermieden werden. Dass die Zahlen am Wochenbeginn sinken, ist der verzögerten Meldung vom Wochenende geschuldet.
Wie äußert sich der Leichtsinn und was sind die Gründe dafür?
Den großen Aufschrei gab es am vergangenen Wochenende: In der Hasenheide in Neukölln waren bis zu 3000 Feiernde zusammengekommen. Das ist aber nicht allein ein Berliner Phänomen: Auch im bayerischen Regensburg etwa musste die Polizei mehrfach bei Partys im Freien einschreiten.
Unvergessen sind zudem die Bilder vom Ballermann auf Mallorca - feiernde Touristen ohne Maske und ohne Abstand. Mittlerweile gibt es Coronavirus-Hotspots in verschiedenen beliebten Urlaubsregionen wie im österreichischen St. Wolfgang. Auch Spanien und Frankreich verzeichnen steigende Infiziertenzahlen. In Spanien ist besonders die Region Katalonien betroffen. Viele Urlauber halten Abstands- und Hygieneregeln nicht ein - und könnten das Virus mit nach Deutschland bringen.
Eine besonders große Gefahr ging in den vergangenen Wochen von Personen aus, die in Risikogebiete wie die Türkei reisten, sich aber nach ihrer Rückkehr weder testen ließen noch in Quarantäne begaben. Dazu kommen in Deutschland zahlreiche Verstöße gegen die Hygieneregeln etwa in der Gastronomie.
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Für den Leichtsinn sind mehrere Faktoren verantwortlich. Der wohl wichtigste: Die Angst hat deutlich abgenommen, ein Gewöhnungseffekt hat eingesetzt. Anfangs wussten die Menschen kaum, was sie in der Pandemie eigentlich erwartet. Jetzt ist Corona mehr zu einem ständigen Begleiter geworden. Das lässt die Vorsicht sinken.
Dass es vor allem im Urlaub zu leichtsinnigem Verhalten kommt, erklärt etwa der Psychologe Stephan Grünewald bei „Focus Online“ damit, dass viele Menschen das ganze Jahr mit Disziplin bestreiten, im Urlaub aber dieser Enge entfliehen und die Zeit unbeschwert genießen wollten. Gerade die Jugend wolle im Urlaub einen drauf machen. Sie sei in den vergangenen Monaten quasi in den Vorruhestand geschickt worden. Alkohol setze das Kontrollvermögen zusätzlich herab.
Sozialpsychologen sage auch, dass sich die Menschen nach Monaten der sozialen Fastenzeit wieder nach Nähe und Gemeinschaft sehnen. Der Verzicht darauf fällt zunehmend schwer, was zu leichtsinnigerem Verhalten führt - selbst die Motivation eigentlich noch da ist. Zudem ist bei vielen der Eindruck entstanden, dass das Schlimmste überstanden ist.
Hat die Politik angesichts der Urlaubszeit zu spät regiert?
Bereits seit Ende Juni sind in einigen Bundesländern Sommerferien. Erst in der vergangenen Woche aber beschlossen Gesundheitsminister der Länder, dass es an Flughäfen kostenfreie Tests für Reiserückkehrer aus Risikogebieten geben soll. In Berlin ist die Einrichtung von Teststellen an beiden Flughäfen für Mittwoch geplant. Immer noch gilt: Wer keinen aktuellen negativen Test vorweisen kann und aus einem Risikogebiet kommt, muss sich in eine zweiwöchige Quarantäne begeben.
Am Montag verkündete Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), dass eine Corona-Testpflicht für Reisende aus Risikogebieten baldmöglich umgesetzt werden soll. Die Pflicht soll dem Ministerium zufolge voraussichtlich ab der kommenden Woche gelten. Die Tests sollen für die Reisenden kostenfrei sein.
Zuvor hatte es rechtliche Bedenken an einer derartigen Umsetzung gegeben. Spahn zufolge könne die Pflicht durch das Gesetz zu einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite umgesetzt werden. Dabei berief er sich auf Paragraf 5, Absatz 2 des Infektionsschutzgesetzes. Derzeit weist das Robert-Koch-Institut rund 140 Länder als Risikogebiet aus.
Wie gefährlich sind die aktuellen Ausbrüche in Berlin?
Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci sagte am Montag, der sogenannte R-Faktor liege in Berlin bei 1,42 und damit wie im Bund „sichtbar über 1“. Diese sogenannte Reproduktionszahl gibt an, wie viele Personen ein Infizierter im Schnitt ansteckt. In den vergangenen sieben Tagen wurden in Berlin 215 neue Fälle registriert.
Unter Fachpolitikern und Ärzten hieß es zu Wochenbeginn einhellig, die registrierten Infektionen der letzten Tage machten deutlich, wo die Gefahren liegen: enge Unterkünfte und Reisen in Risikogebiete. So hatten sich vergangene Woche zahlreiche Arbeiter eines Gemüsehändlers in Berlin-Lichtenberg infiziert. Die zuständigen Amtsärzte stehen mit dem Gemüsehändler mit mehr als 70 Beschäftigten im Austausch, die zumeist im angrenzenden Brandenburger Kreis Barnim wohnten - alle nötigen Maßnahmen seien ergriffen worden, sagte Senatorin Kalayci.
Außerdem erwähnte Kalayci eine Flüchtlingsunterkunft in Lichtenberg, wo der Ausbruch aber ebenfalls „unter Kontrolle“ gilt. Zudem gibt es erste Infektionen bei Urlaubern aus Berlin: Eine siebenköpfige Familie aus Spandau landete vor einigen Tagen auf dem Flughafen Schönefeld. Ob alle Angehörigen infiziert waren und inwiefern nun die Quarantäne durchgesetzt wird, war am Montag nicht bekannt. In allen Bezirken fehlen aber Mitarbeiter in den Gesundheitsämtern.
Wie reagiert man in Berlin auf Regelverstöße bei Feiern und in der Gastronomie?
Manchmal braucht es nur etwas medialen Druck, damit die Berlins Behörden aktiv werden. Nachdem der „RBB“ Bilder von völlig überfüllten Bars in der Torstraße in Mitte gezeigt hatte, gab es am vergangenen Wochenende prompt einen Sondereinsatz der Ordnungsamts. Die Bilanz allein am Freitag: Je drei kontrollierte Bars und Spätis, mehr als 50 festgestellte Verstöße gegen die Hygienebestimmungen.
Doch meist kommen die Ordnungsämter nicht hinterher, das zeigt eine Tagesspiegel-Abfrage aller Bezirke. So werden in Pankow werktags zwei Mitarbeiter für die Kontrolle der Corona-Auflagen bereitgestellt, am Wochenende sind es drei - jedoch nur zwischen 12 und 17:30 Uhr. „Die Politik macht uns Vorgaben, was zu kontrollieren ist, aber da kommt man schnell an personelle Grenzen“, sagt der zuständige Stadtrat.
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In Reinickendorf wurden im Juli bislang 166 Anzeigen gegen die Infektionsschutzverordnung getätigt, dabei handle es sich aber selten um gastronomische Betriebe. In Friedrichshain-Kreuzberg werden im Schnitt jede Woche 75 Gaststätten, 192 Einzelhandelsbetriebe und 45 Grünanlagen kontrolliert. Damit ist man deutlich fleißiger als die Mitarbeiter der Deutschen Bahn, die die Maskenpflicht in den S-Bahnen gar nicht kontrollieren.
Anders seit einigen Wochen die BVG - mit Erfolg. Seit kontrolliert wird, sind die Zahlen der Maskenträger offenbar wieder von 70 auf 90 Prozent gestiegen.
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Auf die Partys in Parks, auf abseitigen Arealen und im Umland reagierten Abgeordnete aller Parteien in Berlin mit Unverständnis. Doch das Beispiel Hasenheide zeigt, dass es vor allem mehr Personal bräuchte, um dagegen effektiv vorzugehen: Die eingesetzten Beamten konnten die Menge zwar weitgehend zerstreuen, doch alle Personalien wegen Verstoßes gegen das Infektionsschutzgesetz aufzunehmen, geht aus Kapazitätsgründen nicht.
Zu den von der FDP erwähnten Verstößen gegen die Masken- und Abstandsregeln in Restaurants sagte Gesundheitssenatorin Kalayci, man müsse auch über höhere Bußgelder für die Gastronomen nachdenken. Zugleich plädierten Abgeordnete dafür, legale Partys unter freiem Himmel mit Regeln und Kontrollen zuzulassen.
Wie gut sind die Schulen auf einen Regelbetrieb vorbereitet?
Eine weitere Sorge bundesweit ist die Rückkehr in den regulären Schulbetrieb nach den Ferien. Die Abstandsregel wird dafür aufgehoben. Doch am Wochenende schlugen Deutschlands Lehrer Alarm. Die Schulen seien „weder auf den Normalbetrieb noch auf den Fernunterricht gut vorbereitet“, warnte der Präsident des Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger. Die von den Ländern erarbeiteten Hygienepläne hält er zumindest in Teilen für nicht umsetzbar.
Aus der Berliner Bildungsverwaltung heißt es dazu, der vorliegende Musterhygieneplan für die Schulen werde „weiter aktualisiert und präzisiert“, nicht nur was das Singen angehe. „Alle Lehrkräfte werden sich zudem testen lassen können“, sagte ein Sprecher von Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD). Die Kapazitäten dafür seien bereits geschaffen. „Die Schulen haben übrigens auch bisher ihre Hygienekonzepte umgesetzt.“
Doch die Herausforderung für Schulleitungen und Lehrkräfte wird nach den Ferien ungleich größer sein als vor der Sommerpause. Damals waren nur kleine Lerngruppen in einem Raum, die aus der Hälfte oder einem Drittel einer regulären Schulklasse bestanden. Für den Fall deutlich steigender Infektionszahlen planen die Bundesländer eine Rückkehr zu einer Kombination aus Präsenz- und Fernunterricht.
Was würde eine zweite Welle für die Wirtschaft bedeuten?
Eine zweite Welle hätte für die Wirtschaft wohl deutlich schlimmere Folgen als die erste. Schließlich haben die Unternehmen noch mit den Folgen des Shutdowns aus dem Frühjahr zu kämpfen. Nach Einschätzung der Bundesbank vom Montag zeichnet sich für das zweite Quartal 2020 sogar „der stärkste Rückgang des realen Bruttoinlandsprodukts seit Beginn der vom Statistischen Bundesamt für den Zeitraum ab dem Jahr 1970 veröffentlichten vierteljährlichen Zeitreihe ab“.
Die Folgen dieser Rezession sind zudem derzeit noch nicht komplett absehbar. Denn weil die Bundesregierung die Insolvenzantragspflicht zunächst bis Ende September ausgesetzt hat, rechnen Experten erst im Herbst mit einer Pleitewelle. Und da das Kurzarbeitergeld Entlassungen in unmittelbarer Reaktion auf den Shutdown vorbeugte, die Wirtschaft das Vorkrisenniveau aber vermutlich auf Jahre hinweg nicht erreichen wird, ist zudem ebenfalls mit einem zeitversetzten Anstieg der Arbeitslosenzahlen zu rechnen.
Eine zweite Welle würde all diese Folgen noch verstärken. Nicht umsonst warnt der Wirtschaftsweise Lars P. Feld im „Handelsblatt“: „Wie die Erholung weitergehen wird, hängt maßgeblich vom Infektionsgeschehen ab.“
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