Proteste in Washington: „Veränderung geschieht nur mit Gewalt“
Während überall in den USA Menschen gegen Rassismus und Polizeigewalt protestieren, verschanzt sich Trump im Weißen Haus. Bei den Demonstranten wächst die Wut.
Als es kracht, ist das Gespräch vorbei. Ein Blitz zuckt auf, ein Knall, Rauchschwaden – die Demonstranten preschen in Panik los, weg von der Kette aus Polizisten und Nationalgardisten, die die 15. Straße an dieser Stelle hermetisch abriegeln, die H hinunter, in Richtung des Weißen Hauses, von dem aus sie keine Stunde zuvor hierher gezogen sind.
Kurz darauf entspannt sich die Situation wieder, offenbar war es nur eine Blendgranate, mit der die belagerten Einsatzkräfte sich an diesem Pfingstsonntag Luft verschaffen wollten, niemand ist verletzt.
Die Demonstrierenden rücken wieder vor, bauen sich wieder einer neben dem anderen vor den Polizisten auf, so nah, dass sich ihr Coronavirus-Mundschutz fast an den durchsichtigen Gesichtsvisieren der Uniformierten reibt. Provozierend nahe, so nahe, dass die Beamten jede Beleidigung hören können, auch wenn sie keine Miene verziehen. Das Psychospiel geht von vorne los.
Aber der Gesprächspartner ist verschwunden, noch bevor er seinen Namen nennen konnte. Gerade hatte der junge Afroamerikaner mit den ordentlich nach hinten gebundenen Rastalocken und dem schwarzen Mundschutz davon erzählt, wie er und seine Freunde hier am vorigen Abend Reizgas und Pfefferspray abbekommen hatten, nachdem sie auf ein Polizeiauto geklettert waren.
„Es war heftig, die Polizei wollte einen Mann verhaften, wir wollten gegenhalten.“ Warum sollte er verhaftet werden? Der junge Mann, der vor drei Monaten von Boston nach DC gezogen ist und nach eigenen Angaben als Finanzberater arbeitet, zuckt mit den Schultern. Nicht so wichtig. Wichtig ist, warum sie hier sind: „Weil wir Gerechtigkeit wollen.“
Für kurze Zeit wurde Donald Trump in einem Bunker untergebracht
Wie am Vortag steigt auch jetzt wieder die Anspannung im Herzen der amerikanischen Hauptstadt mit jeder Stunde. Wieder haben sich viele hundert Demonstranten vor dem Amtssitz von US-Präsident Donald Trump versammelt, um ihrer Wut über den Tod des Afroamerikaners George Floyd Anfang der Woche in Minneapolis Luft zu machen.
Der 46-Jährige war nach einem brutalen Polizeieinsatz gestorben: weil ein weißer Beamter ihm, der angeblich mit Falschgeld gezahlt haben sollte, fast neun Minuten lang sein Knie gegen den Hals gedrückt hatte, obwohl er mehrfach „I can’t breathe“ (Ich kann nicht atmen) herauspresste und nach knapp sieben Minuten das Bewusstsein verlor.
Drei andere Beamte waren bei dem Vorfall dabei, griffen aber nicht ein, um die Tat zu verhindern. Seit ein Handyvideo einer Passantin im Internet aufgetaucht ist, das die Szene dokumentiert, wächst die Wut mit jedem Tag, der verstreicht, ohne dass sich die Polizisten verantworten müssen.
Inzwischen ist der kniende Polizist festgenommen und wegen „Mord dritten Grades“ und Totschlags angeklagt, das bedeutet im amerikanischen Recht, dass ihm kein Vorsatz unterstellt wird. Die anderen drei sind zwar entlassen worden, aber noch auf freiem Fuß. Viele verstehen das nicht.
In Washington – und gleichzeitig in mehr als hundert anderen amerikanischen Städten – protestieren sie nun den dritten Tag in Folge: gegen Polizeigewalt, Rassismus und Ungleichheit, und immer auch gegen Trump, der sich im Weißen Haus verschanzt hat und sich von dort bisher überhaupt nur zu Wort meldet, um die Demonstranten als linke Aufwiegler und Terroristen zu bezeichnen – oder um den Gouverneuren der Bundesstaaten vorzuwerfen, „zu schwach“ zu sein.
Erheiterung in den sozialen Medien lösten am Abend Medienberichte aus, nach denen Trump am ersten Protesttag, an dem das Weiße Haus kurzzeitig unter Lockdown gestellt wurde, für eine knappe Stunde sogar in einen unterirdischen Bunker auf dem Gelände gebracht wurde – eine Sicherheitsmaßnahme, die eigentlich eher für den Fall eines Terrorangriffs vorgesehen ist.
Seit Samstag ist die Regierungszentrale nun noch großräumiger als sonst abgesperrt, Mitarbeiter werden aufgefordert, zu Hause zu bleiben. Falls sie doch antreten müssen, sollen sie ihre Ausweise nicht offen tragen. Medienvertreter sollen einen anderen als den sonst üblichen Eingang benutzen.
Auch ist das Betreten des angrenzenden Lafayette Square, an dem sich am ersten Tag noch Hunderte aufhielten, eigentlich gar nicht mehr erlaubt. Eigentlich: Am Sonntagnachmittag räumen die Demonstranten einfach ein paar Absperrgitter beiseite und rücken näher an die große Zahl von Polizisten, Parkwächter und Secret-Service-Posten heran, die zunächst entspannt bleiben und die Menge gewähren lassen.
Knie spielen in diesen Tagen eine große Rolle
Am Abend, als die Lage hitziger wird, schaltet das Weiße Haus dann den Großteil seiner Beleuchtung aus, ein komplett ungewohnter Anblick – und einer mit ungeheurer Symbolkraft für den samt seiner Regierung abgetauchten Präsidenten. Wo ist der Anführer, wenn man ihn braucht, fragen viele.
„Niemals in den 1227 Tagen von Trumps Präsidentschaft schien die Nation so nach Führung zu rufen wie am Sonntag, doch Trump machte keine Anstalten, sie anzubieten“, schreibt die „Washington Post“.
Angeblich wird im Weißen Haus kontrovers diskutiert, ob Trump sich aus dem Oval Office heraus an sein Volk wenden soll – ob das die Gemüter beruhigen würde, darf allerdings ernsthaft bezweifelt werden. Aber das Schweigen fast der gesamten politischen Elite des Landes in einer sich täglich verschärfenden Krise ist schon bemerkenswert.
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Diese Lücke nutzt einer, der es in den vergangenen Corona-Wochen schwer hatte, mit seinen Botschaften in der Öffentlichkeit durchzudringen. Trumps designierter Herausforderer Joe Biden, der sein Haus in Wilmington im US-Bundesstaat Delaware seit Anfang März kaum verlassen hat, gibt ein kraftvolles Lebenszeichen: Der ehemalige Vize des ersten schwarzen US-Präsidenten Barack Obama stellt ein Foto auf Twitter ein, das ihn unter einem gelben Absperrband kniend im Gespräch mit einem schwarzen Demonstranten zeigt.
Knie spielen in diesen Tagen überhaupt eine große Rolle. Die Demonstranten knien am Sonntagmittag immer mal wieder vor den Absperrgittern des Weißen Hauses nieder, so wie andere es überall im Land tun. In Richtung der Polizisten rufen sie: „Nehmt unsere Knie“.
Aber auch mindestens ein Beamter kniet sich hinter seinen Kollegen hin, als sich Sicherheitskräfte und Demonstranten an der 15. Straße ihren Stellungskrieg liefern. Und aus Minneapolis, wo die Unruhen seit Floyds Tod besonders heftig sind, gehen am Sonntag Bilder des knienden Polizeichefs um die Welt. Genauso wie die von solidarisch knienden Beamten in New York, Des Moines und vielen anderen Städten.
Diese Bilder machen Hoffnung, dass es einen Ausweg aus der täglich zunehmenden Konfrontation geben kann. Die Demonstranten sind in ihrem Schmerz und ihrem Zorn nicht allein, sollen diese Gesten vermitteln.
Meist fühlen sie sich aber doch ignoriert: von denen, die Verantwortung tragen in ihrem Land. Und in Washington auch ganz konkret von den Polizisten vor Ort. „Sie sprechen nicht mit uns, sie kümmern sich einen Dreck um uns“, sagt ein junger Mann, der sich Wop nennt, und starrt wütend in Richtung der Sicherheitskräfte. „Keine Ahnung, wie die trainiert werden, die können ja nicht einmal lächeln.“ Darum helfe es auch nichts, immer nur zu reden und darauf zu hoffen, dass sich von alleine etwas verändert.
„Veränderung geschieht nur mit Gewalt. Wir müssen aggressiver werden“, sagt der 21-Jährige, der nach eigenen Angaben Gesundheitswissenschaften studiert.
„Wen beschützt ihr?“, rufen die Demonstrierenden der Polizei zu
Auch wenn viele Protestierende vor dem Weißen Haus wie Wop die Beamten ausdauernd beleidigen und herauszufordern versuchen – sie rufen „Wen beschützt ihr?“, „Nicht schießen“ und „Ihr seid mitschuldig“ –, so gibt es auch einige, die Verständnis zeigen. „Die machen doch auch nur ihren Job“, sagt etwa Wesley.
Der große bärtige 27-Jährige hat sich gerade auf eine Parkbank gesetzt, er sieht müde aus. „Es muss aufhören, ich habe diese Gewalt so satt, die jeden einzelnen Tag passiert.“ Wesley arbeitet selbst für eine private Sicherheitsfirma, die Gebäude in der Stadt bewacht, anders als viele seiner Bekannten hat er seinen Job nicht verloren.
Aber auch er leidet unter dem allgegenwärtigen Rassismus. „Immer wieder werden meine Freunde und ich von den Polizisten belästigt, oft wollen die uns irgendwas anhängen.“ Sie würden wie Kriminelle behandelt. „Aber das hier“, sagt Wesley und zeigt auf die Demonstranten, „das sind doch keine Kriminellen!“
Klar, manche wollten auch Ärger machen, sagte er auf die Frage, was er zu den Ausschreitungen der vergangenen Nacht sagt, als Geschäfte geplündert und Gebäude und Fahrzeuge beschädigt wurden. „Es gibt einige, die wollen, dass die Polizei auf uns Demonstranten losgeht und Tränengas einsetzt. Das ist Mist.“
Unter die vorwiegend jungen Afroamerikaner am Lafayette Square – es sind mehr als 1000, täglich werden es mehr –, mischen sich auch zunehmend Nicht-Schwarze. Viele wollen sich solidarisch zeigen, sind selbst frustriert – und manche wollen wie Hooligans wohl einfach nur Krawall erleben.
Das geht manchmal ganz schnell, etwa wenn Flaschen aus der Menge auf die Polizisten geworfen werden oder manche nach vorne drängen. Dann rückt die Polizei in einer langgezogenen Reihe vor, Schilde und Knüppel in der Hand, und bleibt so lange, bis sich die Lage wieder beruhigt.
Anschließend geht es rückwärts zurück, von Applaus und Buh-Rufen der Demonstranten begleitet. So wogen die beiden Lager stundenlang hin und her, in der Luft kreisen Hubschrauber, ständig heulen Sirenen.
Was am Nachmittag bei herrlichstem Sommerwetter weitgehend friedlich bleibt, schlägt mit Einbruch der Dunkelheit in Gewalt um. Auf einmal brechen Feuer aus, Fensterscheiben gehen zu Bruch, die Luft riecht nach Rauch und Reizgas.
Weil es in anderen Städten und auch in DC in den vergangenen Tagen zu Plünderungen kam, verrammeln Läden wie das Möbelgeschäft West Elm auf der 14. Straße noch schnell ihre Schaufenster – mit den gleichen Holzbrettern, die sie nach knapp drei Monaten Corona-Lockdown gerade erst abmontiert hatten.
Die Auseinandersetzungen werden heftiger, und ein Ende ist nicht absehbar. Beobachter sprechen schon von den schlimmsten Unruhen seit 1967. In Washington haben die Proteste ausgerechnet an dem Tag begonnen, an dem die Bürgermeisterin der Stadt, Muriel Bowser, die strengen Corona-Auflagen erstmals vorsichtig lockerte.
So ist es zum Beispiel wieder erlaubt, im Außenbereich von Restaurants zu sitzen, auf Abstand natürlich. Die Vorfreude war groß, endlich wieder nach draußen zu können nach den langen eintönigen Wochen, gerade rechtzeitig hat auch noch der Sommer begonnen. Und nun das.
Menschenmassen vor dem Weißen Haus - als wäre Corona kein Thema mehr
Nach wochenlangem Quasi-Hausarrest, den viele junge Leute auch noch ohne Job durchleben mussten, scheinen die Emotionen geradezu zu explodieren. In Washington haben sich im Zuge der Corona-Pandemie, durch die landesweit schon mehr als 100.000 Menschen gestorben sind und über 40 der rund 330 Millionen Amerikaner ihren Job verloren haben, bereits mehr als 100.000 Einwohner arbeitslos gemeldet. Das ist ein Siebtel der Bevölkerung – die knapp zur Hälfte schwarz ist.
Es machen sich jetzt jeden Tag so viele Menschen auf den Weg zum Weißen Haus, dass man fast vergessen könnte, dass das Coronavirus sich hier weiterhin ausbreitet. Nur die Masken, die eigentlich alle tragen, erinnern daran, was bis vor einer Woche das einzige Gesprächsthema war.
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Nach der ersten Randale-Nacht und wissend um die Gewalt, die auch Städte wie Minneapolis, Los Angeles, Atlanta oder New York Abend für Abend erschüttert, verhängt die Bürgermeisterin am Sonntagabend eine Ausgangssperre, die zwischen 23 und 6 Uhr morgens gilt. Am Montag soll sie sogar bereits um 19 Uhr beginnen. Kaum einer kann sich noch erinnern, wann das das letzte Mal der Fall war.
Warum diese Maßnahme ergriffen wird, zeigt sich nach Einbruch der Dunkelheit. Aus dem gelegentlichen Gerangel werden handfeste Auseinandersetzungen, aus Graffiti wird Vandalismus, überall in der Stadt. Vor dem Weißen Haus brechen Feuer aus, die Fernsehbilder wirken dramatisch.
Kurzzeitig verbreitet sich das Gerücht, St. Johns würde abbrennen, die Präsidentenkirche am Lafayette Square. Die Wut in rechten Kreisen im Internet kocht hoch. Dass sich bald darauf herausstellt, dass alles nicht so schlimm ist, wird viele nicht mehr erreicht haben. Es gab einen Brand im Keller, die Kirche selbst blieb aber offenbar unversehrt. Washington kommt erst früh am Morgen zur Ruhe.
Am Montag gegen die Demonstrationen dann auf ein Neues los. Wieder ist es zunächst friedlich, die Atmosphäre erinnert tagsüber ohnehin eher an ein Rockkonzert, endlich ist wieder was los, denken wohl viele. Auch Kinder sind dabei.
Auffällig ist in diesen Stunden zudem, wie freundlich alle miteinander umgehen. Wer jemanden im Gedränge aus Versehen anrempelt – Social Distancing scheint plötzlich wie ein Konzept längst vergangener Zeiten –, entschuldigt sich. Man bedankt sich, wenn man durchgelassen wird.
„Wenn wir protestieren können, können wir auch hinterher aufräumen“
Durch die Menge laufen immer wieder Freiwillige, die Wasser, Gesichtsmasken, Handdesinfektionsmittel und Essen verteilen. Und ziehen die Demonstranten mal weiter, räumen andere auf, wie Diego Garces zum Beispiel.
„Wenn wir protestieren können, können wir auch hinterher aufräumen“, sagt er. Ihm sei Ordnung wichtig, daher habe er einfach ein paar Mülltüten gekauft, andere würden sich ihm inzwischen anschließen. „Wir wollen ein gutes Beispiel sein.“
Der 34-Jährige ist aber auch hier, weil er selbst immer wieder erfährt, was Rassismus ist: In Kolumbien geboren, lebt er seit seinem siebten Lebensjahr in den USA, hat inzwischen auch schon lange die Staatsbürgerschaft. „Und trotzdem höre ich immer wieder: Geh zurück in dein Land.“
Kurz bevor es knallt und er wie alle anderen erstmal das Weite sucht, berichtet auch der junge Mann mit den Rastalocken von Rassismus. Davon, wie er als Zwölfjähriger fälschlicherweise beschuldigt worden sei, ein Fahrrad geklaut zu haben. „Der Polizist hat mich am Nacken gepackt und auf den Boden geworfen.“ So etwas geschehe ständig, es höre nie auf.
Dieses Ohnmachtsgefühl kennen hier viele. Dazu kommt der Frust über die alltäglichen Ungerechtigkeiten: die soziale Lage und die hohen Mieten, die in Washington dazu führen, dass viele sich das Leben in der Stadt nicht mehr leisten können.
Passiert dann etwas wie in Minneapolis, explodiert die Wut: „Ich könnte der nächste sein“, steht auf vielen Schilder am Lafayette Square. Die Menschen sind wütend, sie wollen provozieren – um gehört zu werden, damit sich endlich etwas ändert.
Dann gibt der junge Mann noch eine Antwort auf die Frage, wie die Proteste abebben könnten. „Wenn alle vier Polizisten verhaftet sind und angeklagt werden, dann wird das hier aufhören. Aber erst dann.“