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Helmut Seidler, 73 Jahre alt, in seinem Taxi.
© David Heerde

Taxi-Fahrer in Berlin: Unterwegs durch die Nacht

Mal beratend, mal diskret, mal eilig. Seit fünf Jahrzehnten fährt Helmut Seidler Taxi – und selten waren die Zeiten härter. Die Branche ist bedroht, die Konkurrenz wächst. Im Rennen um Exklusivität bleibt wehmütige Erinnerung. Eine Nachtschicht in Berlin.

Das große Ja-Nein-Spiel beginnt an einem Samstagabend um kurz nach sieben Uhr. In Spandau, Ortsteil Pichelsdorf. Schwer angenattert schlingert der ältere Herr um die Ecke auf Helmut Seidlers Taxi zu. Einmal in die Kneipe, bitte, frischen Alkohol. Und wenn die eine Kneipe zu hat, dann halt in die andere. Ein lieber Mann mit sanfter Stimme und Herrenhandtasche, natürlich findet er zuerst den Gurt nicht, aber Seidler, ganz Gentleman, hat Zeit. Die erste Kneipe: geschlossen.

„Hier ist nix“, sagt Seidler, „alles zu.“

„Nein, hier ist zu“, sagt der Gast. „Dann die andere.“

„Ja“, sagt Seidler, „die ist sicher auf.“

„Nein“, der Gast, „hier ist doch zu.“ Was denn mit der anderen sei?

„Ja“, sagt Seidler, die andere sei auf.

„Nein“, sagt der Gast, ob Seidler nicht sehe: kein Licht im Laden, die Tür geschlossen. Er habe wirklich nicht den Eindruck, dass geöffnet sei. Vielleicht habe man in der anderen Kneipe mehr Glück.

„Ja“, sagt Seidler, „da ist auf.“

„Nein“, sagt der Gast, „hier ist zu.“

„Ja“, sagt Seidler, „aber da nicht.“

„Ja, dann aber mal los“ – der Gast. Und Seidler fährt, Pokerface.

Drei Mal klopfen aufs Armaturenbrett

Gelassenheit hat viele Gesichter. Helmut Seidlers gehört dazu. Graue Haare, grauer Bartschatten, 73 Jahre alt. Seit fünf Jahrzehnten Taxifahrer, einer der ältesten der Stadt. Also: Wie ist der Job, wie war er früher und wie geht es weiter in Zeiten, in denen die Branche bedroht ist. Von Apps wie „Uber“, bei der Privatleute einander durch die Stadt kutschieren; gegen deren jüngst vom Senat verhängtes Verbot die Betreiber schon Widerspruch eingelegt haben. Von Limousinenanbietern wie „Blacklane“, teurer, aber gediegener als Taxen. Von Carsharing-Angeboten, die den Passagier zum Fahrer machen. Eine Nachtschicht mit Helmut Seidler.

Zunächst die Legenden: Wie viele Liter Kotze er aus den Sitzen kratzte, wie viele Fruchtblasen im Wagen platzten und wie viele Semester Soziologie er auf dem Buckel hat? Keinen, keine und kein einziges. Körperflüssigkeiten behielten seine Passagiere meist bei sich, drei Mal Klopfen aufs Armaturenbrett, und Uni – ach was.

Bäcker war er, dann Polizist, Anfang der sechziger Jahre. Ausgebildet am Granatwerfer, man wollte den Betriebskampfgruppen der DDR etwas entgegensetzen, und deutsches Militär war in West-Berlin nicht erlaubt. Also rüstete man die Polizisten auf, kasernierte sie und gab ihnen dafür ein paar hundert Mark im Monat. Wie wenig das tatsächlich war, merkte Seidler, als er einen seiner ehemaligen Kollegen traf, der umgeschult hatte auf Taxi – und locker das Vierfache verdiente. Will ich auch, dachte Seidler. Also kündigen und ab ins Taxi.

Hobby zum Beruf gemacht

Bunte Jahre, Geld wie Heu, „ich könnte Ihnen Geschichten erzählen, mein Gott“, sagt er. Etwa die, warum er mit 73 Jahren noch Taxi fahren muss. „Weil ich ein Opfer der Wende bin.“ Mitte der achtziger Jahre kommt Seidler eine gute Idee: Kaum jemand wollte Behinderte fahren, anstrengend, zu wenig Platz im Wagen. Und das, obwohl die Coupons vom Senat bekamen, sechs Freifahrten pro Monat, egal wohin. Was wäre, wenn er die führe? Also bestellt er Großraumtaxen, „als einer der Ersten in der Stadt“. Sonderanfertigungen, vier Wagen für 300 000 DM, seine Altersvorsorge als Absicherung für den Bankkredit. Als das Geschäft anläuft, fällt die Mauer. Für die Behinderten in Ost-Berlin habe es keine Coupons gegeben, das sei ungerecht, findet der Senat, und schafft das Gutscheinsystem wieder ab. Seidler ist pleite. Pfändung, Ende.

Deshalb fährt er heute noch, wird fahren, bis sie ihm den Taxi-Schein irgendwann abnehmen. Das ist die traurige Geschichte. Die aber ihre guten Seiten hat, denn er fährt ja gerne, Hobby zum Beruf gemacht und so weiter, wer kann das schon von sich sagen?

Die Nacht kennt Gewinner und Verlierer. Er fährt sie alle

Der Mann mit Zopf vielleicht, der um kurz nach zehn in Wedding zusteigt, an der Hand eine Blondine. Ein Held der Nacht, der sagt, dass er „technischer Leiter“ sei und es eilig habe. Einmal zum Edelitaliener an den Gendarmenmarkt, „aber auf dem schnellsten Weg, das Essen wird kalt“. Seidler, der Dienstfertige, gibt Gas.

Zur Freude des Helden, einer von denen, der von allem zu viel hat. Der Zopf zu lang, das Kaugummi zu pfefferminzig, die Stimme zu laut. Aus Dortmund sind sie und in Eile, die Sterneköche am Gendarmenmarkt lässt er nur ungern warten. Schließlich kenne er sie alle, den Kleeberg, den Raue, den Güngörmüs. Seine Begleitung ist Schlagersängerin, auch sie „durchaus erfolgreich“, wie er sagt. Den einen Arm um ihre Schultern gelegt, die Beine gespreizt, locker auf der Rückbank.

Körpersprache, die einfachste Sprache der Welt: Hömma, Kollege, hier kommt Käpt’n Koks und er hat Hunger – das ist die Botschaft. Keiner von den Schlagfertigen, aber einer von den Lauten. Mit einem überraschend weichen Händedruck zum Abschied, der kernige Kerl kann wohl auch mild. Aber nicht heute, heute guckt er nicht auf den Taler. Sondern auf den Teller. Großes Hallo am Gendarmenmarkt, „da sitzen sie schon alle, guck sie dir an“, röhrt der Pfefferminzige, und dass es nun losgehen könne, jetzt, wo er auch da sei.

Er gibt den Menschen was sie brauchen

Und Seidler? Sitzt, schweigt, hört zu. Ein Profi, der den Menschen gibt, was sie brauchen. Wenn sie eine Bühne brauchen und Seidler als Publikum im Zuschauerraum, dann sollen sie das haben. Abgerechnet wird zum Schluss, beim Trinkgeld. Die Nacht kennt Gewinner und Verlierer – und Seidler fährt sie alle.

Zutraulich und beratend, wenn erwünscht. Wie bei der Frau, die er einmal vier Stunden durch die Stadt kutschierte während sie ihm ihr Herz ausschüttete. Das ganze verkorkste Leben, der prügelnde Ehemann und die vielen Sorgen.

Diskret, wenn erwünscht. Wie bei dem Piloten und der Stewardess, die auf der Rückbank Dinge veranstalteten, die den jeweiligen Ehepartnern wohl nicht recht gewesen wären.

Eilfertig, wenn erwünscht. Wie bei Franz Beckenbauer auf dem schnellen Weg zum nächsten Termin. Als die Grandezza des Fußballers die kleine Fahrgastzelle erleuchtete, so dass Seidler noch Jahre später begeistert ist: „Bei allem Respekt – aber er ist wirklich der Kaiser.“

Seidler, du Fuchs, alter Geschichtenerzähler!

Überhaupt, der Sport. Noch so eine Geschichte. Seidler der Unterhalter. Immer schon sei er sportlich gewesen, die Folgen der harten Polizeiausbildung. In den Sechzigern stand er kurz vor einer Profikarriere, lief die 100 Meter in 10,6 Sekunden im Duell gegen Armin Hary, den damals schnellsten Sprinter der Welt. In den Siebzigern war Seidler Polizeisport-Vizeeuropameister im Mittelgewicht der Boxer. Als jüngster Trainer im deutschen Profi-Fußball etablierte er die Berliner Mannschaft von Wacker 04 in der zweiten Bundesliga. Fast stiegen sie sogar in die erste Liga auf, aber das entscheidende Spiel vor 25 000 Zuschauern im ausverkauften Poststadion ging verloren.

Ein Leben voll sportlicher Triumphe, während derer Seidler weiter Taxi fuhr. Leider finden sich keine Belege dieser Leistungen im Zeitungsarchiv, kein einziger Artikel über den Sprinter, den Boxchamp, den Erfolgstrainer. Dafür erinnert sich ein älterer Herr bei Wacker 04 an Seidler. Ja, er kenne ihn recht gut, sagt Klaus Basikow. Ein engagierter Trainer sei Seidler gewesen, in den Siebzigern. Bei der A-Jugend von Wacker 04. Was heißt hier A-Jugend? Profitrainer! Da lacht Klaus Basikow: „Der Trainer? Das war ich.“

Seidler, du Fuchs, alter Geschichtenerzähler! Da kann ein Limousinenservice wie Blacklane noch tausendmal mit seinen diskreten Fahrern werben, die guten Geschichten gibt’s im Taxi. Was aber nicht bedeutet, dass nicht auch da die Professionalisierung längst um sich greift. Auch, wenn die einmal zum Limousinenservice abgewanderten Passagiere wahrscheinlich verloren sind: Dagegenhalten wollen sie trotzdem. Wie das?

Der Ku'damm ist tot, das Geld längst in den Osten gewandert

„Ich bin ein Elite-Taxi“, sagt Seidler. Geschult in Sachen Freundlichkeit, der Wagen sauber, dazu Hemd und vernünftige Hose. Die Standards, könnte man meinen, aber so ist es halt nicht und darum geht es auch nicht. Sondern darum, im Rennen nach Exklusivität mitzuhalten. Ganz oben in der Hierarchie thronen die „Elite-Taxen“, darunter kommen die „Vip-Taxen“, darunter das normale Taxi. Mit dem, so die Theorie, will am Ende niemand mehr fahren. Stattdessen krabbeln sie alle in die Elite-Taxen, denn schließlich will jeder etwas Besonderes sein, anderenfalls könnte er ja gleich zu Fuß gehen.

Ein guter Plan, der aber nicht aufzugehen scheint, weil kaum jemand weiß, dass es Elite-Taxen gibt. So bittet auch kaum jemand bei seiner Bestellung um Seidler und seine besser ausgebildeten Kollegen – und schon ist der eingebildete Vorteil dahin. „Wir sind zu wenige, um als kritische Masse auftreten zu können“, sagt Seidler. „Recht so“, könnten da die Elitären sagen. Exklusivität lebt nun mal vom Ausschluss der breiten Masse. Aber speziell im Taxigewerbe ist das dann doch eher doof.

Früher war das leichter. Es gab Zeiten, sagt Seidler, in denen gute Tipps und Informationen noch Geld wert waren. In denen der Fahrer im Vorteil war, der die Straßen besser kannte und bei eingehenden Bestellungen über Funk sofort auf die Annahmetaste drückte, weil er schneller wusste als die anderen, wo es hingeht. Die Puffs, in denen derjenige umsonst Sex bekam, der ihn um Mitternacht vor den Augen der anderen hatte, in einem Käfig über der Bühne. Wo der Taxifahrer von den Betreibern 60 Euro Provision für jeden Freier erhielt, den er an der Bordelltür ablieferte. Mehrwissen war mehr Geld. Heute bringt eine optimal verlaufende Samstagnacht vielleicht noch 200 Euro Umsatz. Angestellte Fahrer bekommen davon – je nach Verhandlungsgeschick – nur selten mehr als 40 Prozent.

Die App ist nicht das Problem

Was ist da schiefgelaufen? Die Uber-App oder Carsharing sieht Seidler nicht als Problem, denn wer da einsteigt, wäre auch früher nicht unbedingt Taxi gefahren. Es ist profaner: „Wir sind einfach zu viele“, sagt er. Knapp 8000 Taxen gibt es in Berlin, „wenn die alle gleichzeitig fahren würden, wäre die Branche sofort am Ende“. Aber auch, wenn rund 1000 Wagen wohl gar nicht unterwegs sind – in der Werkstatt, Fahrer im Urlaub – das Problem bleibt: Sie haben zu viel Wartezeit. Und zu viel Konkurrenz untereinander.

Seidler, der Wehmütige: „Ich war zufriedener, als die Mauer noch stand.“ Allein die Vorteile, die Berlinzulage, die sichere Kohle. Der Ku’damm – „was da abends los war“. Heute ist alles tot. Nix geht mehr, dafür ist das Geld in den Osten gewandert, nach Mitte, in den Prenzlauer Berg und nach Friedrichshain. An sich könnte es Seidler egal sein, wo seine Passagiere stehen, aber er mag den Osten halt nicht besonders. Seidler ist einer aus der alten Garde: West-Berlin vor Ost-Berlin, hetero vor schwul, weiß vor bunt.

Die alte Taxi-Welt erodiert. Ihre Treffpunkte, ihre Infrastruktur, ihre Rituale. Da hat nachts die Imbissbude mit dem kostenlosen Taxler-Kaffee plötzlich geschlossen. Steht eben niemand mehr am Ku’damm, wo Seidler trotzdem ein paar Runden dreht. Da muss er nachts in einem Spätkauf in der Danziger Straße fragen, ob er mal auf Toilette dürfe, geflüstert: „Ich bin Taxifahrer.“ Alles ist anders.

Liebe Kerle in wirtschaftlichen Nöten

Aber dann kommen sie doch noch, wie Boten der Vergangenheit: ein Paar, irgendwo in Charlottenburg. Er in Jeansjacke und Rolling-Stones-Shirt, sie mit einer Botschaft. Ob man bitte schreiben könne, dass die Taxifahrer liebe Kerle in wirtschaftlichen Nöten seien. Sie wisse das, schließlich arbeite sie seit mehr als 30 Jahren am Flughafen Tegel in einem Taxi-Imbiss. Sie kennt sie alle, ihr Mann kennt sie alle. Seidler kennt sie eh.

Einer dieser Momente, wenn Veteranen aufeinandertreffen und die alten Zeiten zum Leuchten bringen. In der Rückschau ist alles besser. Damals, als Innung und Verband noch gemeinsame Feste veranstalteten und nicht konkurrierten. Seidler und seine Leute. Sie kennen sich nicht, aber das ist egal. Sie kennen, was sie einte.

„Und Mahlow“, fragt der Jeansbejackte, „kennst du noch Mahlow? Der mit dem Schrapnell im Gesicht?“ Natürlich kennt Seidler den, diesen „guten Funktionär der Innung“. Zu später Stunde kommt er noch einmal richtig aus dem Sulky, Chronist der Branche, Gleicher unter Gleichen. Ob seine Passagiere noch wüssten, die ganzen Stasifahrer, die sich in der Wendezeit kurz vor Abwicklung noch einen Taxi-Schein besorgten? Wie sie alle rübergekommen seien nach West-Berlin, keine Ahnung von nix, aber den Stadtplan im Handschuhfach? Wie sie alle am Bahnhof Zoo standen, bis die Stelle irgendwann nur noch die „Stasi-Halte“ genannt wurde? Natürlich wissen seine Gäste das. Wie geht der alte Stasi-Taxi-Witz, fragt es von der Rückbank: „Wenn ein Fahrgast im Osten nach Hause wollte, musste er nur seinen Namen sagen. Adresse war ja bekannt.“

Großes Gelächter. Dickes Trinkgeld. Ein richtiger „Wir-gegen-die-Moment“. Alle glücklich, dann Abfahrt. Ein echter Seidler, ganz zum Schluss: authentisch.

Dieser Text erschien auf der Reportageseite.

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