Die Türkei und der Fall Deniz Yücel: Unter Erdogans Augen
Der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel und weitere 150 Kollegen sitzen noch immer in Haft, ohne dass ihnen eine Anklage vorgelegt wird. Was geht in der Türkei vor sich? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Die Anwälte des inhaftierten „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel sind vor das türkische Verfassungsgericht gezogen. Sie beantragten die Freilassung des Journalisten aus der Untersuchungshaft.
Wie argumentieren die Anwälte?
In dem Antrag der Anwälte heißt es, die Inhaftierung Yücels verletze „sein Recht auf körperliche Unversehrtheit und seine persönliche Freiheit, das Recht auf ein faires Verfahren, sein Recht auf die Unschuldsvermutung, sein Recht auf Schutz vor Verleumdung, das Recht auf Privatsphäre und freie Kommunikation sowie seine Meinungsfreiheit“.
Wie sind seine Aussichten?
Es ist nicht mit einer raschen Entscheidung der Justiz zu rechnen. „Wir warten“, sagte Yücels Anwalt Veysel Ok dem Tagesspiegel in Istanbul. Die Richter in Ankara halten sich nicht nur im Fall Yücel zurück, sondern auch bei Verfahren gegen andere der rund 150 Journalisten, die teilweise seit Monaten ohne Anklage in Haft sitzen: Wie das ganze Land wartet auch die Justiz auf den Ausgang des Verfassungsreferendums am 16. April, bei dem es darum geht, ob weitreichende Kompetenzen des Parlaments auf den Präsidenten übertragen werden.
Yücel war Mitte Februar in Istanbul in Polizeigewahrsam genommen und später unter dem Vorwurf der Terrorpropaganda in Untersuchungshaft gesteckt worden. Im Gefängnis Silivri außerhalb der Bosporus-Metropole wartet er seitdem wie viele andere inhaftierte Medienvertreter auf einen Prozess oder zumindest eine Anklageschrift. Das Schicksal von Yücels Kollegen legt nahe, dass es damit noch dauern kann. Autoren der Oppositionszeitung „Cumhuriyet“ sitzen seit Ende Oktober hinter Gittern, ohne dass die Staatsanwaltschaft eine Anklage vorgelegt hätte. Auch die „Cumhuriyet“-Journalisten haben sich an das Verfassungsgericht gewandt, doch die Richter ignorieren die Eingaben bisher. Zwar veröffentlichte das oberste Gericht ein Urteil zugunsten eines Journalisten, der zu einer Haftstrafe verurteilt worden war. Doch ging es dabei um einen unpolitischen Fall. Bei Yücel und vielen anderen ist es anders.
Warum zögert die Justiz?
Der Grund für das Zögern der Staatsanwaltschaft bei der Ausarbeitung der Anklage sei offensichtlich, schrieb der Kolumnist Mehmet Yilmaz am Freitag in der „Hürriyet“. Da die Journalisten wegen Terrordelikten festgenommen worden seien, es aber ganz offensichtlich keine Beweise für eine Verbindung der Beschuldigten zu Terrorgruppen gebe, könne auch keine Anklageschrift vorgelegt werden, vermutet Yilmaz. „Sie sitzen wegen Anschuldigungen in Haft, von denen sie am Ende freigesprochen werden.“ Die Frage ist, wie lange das dauern wird.
Einige Kritiker sehen eine Mitverantwortung des Verfassungsgerichtes. Die Richter machten sich mitschuldig, indem sie die Eingaben der inhaftierten Journalisten in den Schubladen verstauben ließen, schimpfte „Cumhuriyet“. Das Gericht selbst verweist auf die Überlastung seiner Richter: Allein seit dem Putschversuch vom Juli vergangenen Jahres, der eine Entlassungs- und Inhaftierungswelle mit mehr als hunderttausend Betroffenen nach sich zog, seien 60 000 Eingaben bei seinem Gericht eingegangen, sagte Gerichtspräsident Zühtü Arslan. Doch allein daran liegt es möglicherweise nicht.
Ist das Verfassungsgericht unabhängig?
Im Prinzip ja. Kritiker von Präsident Recep Tayyip Erdogan vermuten aber, dass sich die Mitglieder des höchsten Gerichts unter Druck gesetzt fühlen. Zwei Mitglieder des Verfassungsgerichts waren nach dem Putschversuch verhaftet worden. Im vergangenen Herbst erklärte das Gericht, unter dem bestehenden Ausnahmezustand sei es für die Überprüfung von Regierungsdekreten mit Gesetzeskraft nicht zuständig. Damit habe das höchste Gericht das Land „mit einem Schlag ohne Verfassung dastehen lassen“, kritisierte „Cumhuriyet“. Für Yücel und andere Journalisten in türkischen Gefängnissen könnte der vermutete politische Druck auf die höchsten Richter schwere Folgen haben.
Kann Europa einschreiten?
Die Blicke von Menschenrechtlern in der Türkei richten sich zunehmend auf den Europarat und dessen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Als Mitglied des Europarates muss sich die Türkei an die Urteile des Straßburger Gerichts halten, doch Häftlinge wie Yücel müssen zuerst den Rechtsweg in der Türkei ausgeschöpft haben. Angesichts des Eingabe-Staus in Ankara, so sagte Europarats-Generalsekretär Thorbjorn Jagland kürzlich jedoch, könne sich das Menschenrechtsgericht auch sofort der Fälle annehmen. Das war eine klare Warnung an die türkische Führung, doch ob in Ankara jemand zuhört, ist nicht sicher.
Wie ist die Stimmung im Land?
Alle in der Türkei, von der Wirtschaft bis zu Richtern und Beamtenapparat, warteten auf das Ergebnis der Volksabstimmung, sagt ein Geschäftsmann in Istanbul. Niemand investiere mehr, niemand wolle noch etwas Wichtiges entscheiden. Selbst die kurdische Terrororganisation PKK hält sich mit Gewaltaktionen zurück. Obwohl Erdogan und seine Regierungspartei AKP den Staatsapparat und die meisten Medien auf ihrer Seite haben, ist gut zwei Wochen vor der Abstimmung noch nicht sicher, ob der Staatschef sein Ziel der Schaffung einer Präsidialrepublik erreichen kann. Bis in die AKP- Wählerschaft hinein reicht die Skepsis hinsichtlich Erdogans Plänen. „Es gibt AKP-Leute, die sagen: ‚Es reicht, das mache ich nicht mit‘“, berichtet der Istanbuler Unternehmer. Er selbst findet das Vorhaben des Präsidenten, das weitgehende Machtbefugnisse für das Staatsoberhaupt vorsieht, nicht praktikabel. „Nur im Märchen“ gebe es Leute, die alles könnten.
Könnte Erdogan die Abstimmung verlieren?
Laut Medienberichten sorgt sich die AKP besonders wegen der Lage in den Großstädten. Unveröffentlichte Umfragen für die Erdogan-Partei haben ergeben, dass viele Frauen, Kurden und Nationalisten in den Metropolen mit der Zustimmung für das Präsidialsystem zögern. In den zwei Wochen vor dem Referendum dürfte die Regierungspartei ihre Anstrengungen für diese Wählergruppen verstärken.