Asyl-Debatte: Unser Wohlstand ist durch Flüchtlinge nicht bedroht
Mehr Flüchtlinge kommen, nicht wenige Bürger äußern Angst vor einem Kollaps öffentlicher Kassen. Verständlich ist diese Angst nicht. Ein Kommentar.
Nein, ich verstehe die Angst nicht. Ich will ja gern. Wann immer es geht, höre ich zu. Ich höre Verwandten zu und dem Frauenclübchen am Nachbartisch und den Senioren in der Supermarktschlange. Ich schaue mir an, was die Leute in Fernsehkameras sagen und was sie in Online-Kommentaren schreiben. Ich spreche mit Lesern. Ich lese ihre Briefe. Und trotzdem: Die Angst will mir nicht in den Kopf.
Neulich zum Beispiel sprach ich mit einer gebildeten Dame Ende 60. Sie habe ja ein gutes Auskommen, sagte sie, aber um die Zukunft ihrer Enkel mache sie sich große Sorgen. Dass es denen einmal schlechter gehen könnte als ihr selbst. Täglich kämen doch „Massen“ von Flüchtlingen, ein „nicht endender Strom“. Wo sollen die alle hin? Und wer soll das alles bezahlen? Sie sorge sich, dass kein Geld mehr für Schulen da ist. Dass der Berliner Senat eines Tages Flüchtlinge „bei privat“ zwangseinquartieren könnte. Wo wir doch wahrscheinlich schon für die Griechen zahlen müssen!
Das Thema treibt die Leute um
Ich verstehe, dass das Thema die Leute umtreibt. Mich treibt es auch um. Ich verstehe das verstörende Potenzial der Bilder von Zeltstädten in Brandenburg und anderswo. Was ich nicht verstehe, ist die Angst vor einem Kollaps der öffentlichen Kassen oder vor dem Verlust der bürgerlichen Existenz. Wir haben in Deutschland die Butter zentimeterdick auf dem Brot. Und es sind sicherlich nicht die Flüchtlinge, die uns die runternehmen.
Dass in unserem Land mehr als genug Geld da ist, um letztendlich auch die Flüchtlinge bei uns unterzubringen, zeigen uns die vielen Groschengräber, [...] wie die Elbphilharmonie in Hamburg oder der Nürburgring. Zig Millionen Euro [...] verschwendet, anstatt dieses Geld in Menschen zu investieren!
schreibt NutzerIn haase
Natürlich kostet die Unterbringung von Flüchtlingen zunächst einmal Geld. Aber wenn CSU-Chef Horst Seehofer von „finanziellen Belastungen in gigantischer Größenordnung“ spricht, die auf Bayern zukämen, wenn Online-Kommentatoren von der „Ausrufung des Notstands“ schwadronieren, verzerrt das die Dimension. Der bürgerliche Wohlstand der Deutschen ist auch durch 600.000 Flüchtlinge im Kern nicht bedroht. Nicht auf die staatlichen Etats und schon gar nicht auf die deutsche Volkswirtschaft insgesamt wird das wesensverändernde Auswirkungen haben.
Nehmen wir Bayern, weil die CSU ja mal wieder besonders laut jammert. Im Jahr 2014 hat das Land für die Unterbringung und Verpflegung von Asylsuchenden 410,8 Millionen Euro ausgegeben. Das klingt viel. Verteilt auf alle Bayern aber macht das 32,95 Euro pro Kopf im Jahr, bei einem durchschnittlichen Nettojahreseinkommen von 18.276 Euro. Oder nehmen wir Berlin. Berlin hat 2014 95 Millionen Euro für die Unterbringung von Flüchtlingen aufgebracht. Macht 27,94 Euro pro Jahr und Kopf. (Die Kosten sind übrigens im Moment besonders hoch, weil neue Unterkünfte gefunden oder geschaffen werden müssen. Sie dürften sinken, sobald Plätze eingerichtet sind.) Das können wir uns nicht leisten?
Natürlich muss das Geld irgendwo herkommen, deshalb wird ja so laut gejammert, das ist Teil des Verteilungsgezerres in der Europäischen Union, zwischen Bund, Ländern, Städten und Gemeinden. Möglicherweise wird am Ende sogar der Anstrich einer Schule warten müssen oder die Neubeblumenkübelung dieser oder jener Fußgängerzone. Ohne Frage ist viel zu tun: Container und Immobilien müssen beschafft, wahrscheinlich auch Gesetze geändert und Verfahren beschleunigt werden. Aber das sind praktische Probleme. Wenn eine hocheffiziente Verwaltung wie die deutsche genug politischen Druck und Spielraum bekommt, dann löst sie die.
Sorge vor einer Destabilisierung der Gesellschaft
Warum also die Panik? Beflügelt wird die apokalyptische Stimmung durch die Sorge vor einer gesellschaftlichen Destabilisierung. Als die Allensbacher Demoskopen im Mai zuletzt die Deutschen zum Flüchtlingsthema befragten, sagten viele, sie fürchteten, Konflikte aus den Heimatregionen der Flüchtlinge könnten nach Deutschland überschwappen. 62 Prozent meinen außerdem, die Ausländerfeindlichkeit könne durch die Flüchtlinge zunehmen. Das Klima, versichern die Allensbacher, sei aber nicht annähernd so schlecht wie 1992. Sie finden vor allem eine allgemeine Orientierungslosigkeit. Die Deutschen fragen sich, ob sie noch mehr Flüchtlinge aushalten – wirtschaftlich und gesellschaftlich - und fürchten sich gleichzeitig davor, dass es nicht so ist.
Vielleicht fürchten die Deutschen sich zu Recht vor sich selbst. Nicht, weil wir bald über Nacht wieder alle zu mordbrennenden Nazis werden – sondern weil Zukunftsangst schlecht für’s Konsumklima ist. Das ist das eigentliche Problem der deutschen Volkswirtschaft.
In einer früheren Version dieses Textes hieß es, Berlin habe im Jahr 2014 95 Millionen Euro für "Unterkunft und Verpflegung" der Flüchtlinge ausgegeben. Tatsächlich bezieht sich die Zahl nur auf die Kosten für die Unterkunft. Wir haben das entsprechend korrigiert.