Nach dem Brexit-Referendum: Ein neuer Tag bricht an in "Little Britain"
London ist nach dem Brexit-Votum ganz ruhig. Kein Zittern, kein Toben. Kommt noch, sagen manche. Nach dem Schock.
Im Jargon der Wettbüros war das, was gestern in England zu beobachten war, ein echter Außenseitersieg. Die Quoten für die Wetten auf „Leave“, den Austritt Englands aus der EU, waren exzellent.
Was aber bedeutet es für ein Land, wenn es plötzlich feststellen muss, dass die vermeintlichen Außenseiter in Wahrheit die Mehrheit sind?
In einem Bürogebäude in Westminster, Victoria Street 83, auf halbem Wege zwischen Buckingham Palace und Parlament, sitzt im vierten Stock Hugo Dixon aufrecht an seinem Computer, während ihm vor Müdigkeit langsam die Farbe aus dem Gesicht weicht. Dixon, ein Wirtschaftsjournalist und Kommentator, hat eine Menge dafür getan, dass England in der EU bleibt. Er hat ein Buch über die Gründe geschrieben, drinzubleiben, und mit der Unterstützung der bekanntesten Journalisten, darunter des ehemaligen Guardian-Chefredakteurs Alan Rusbridger, das journalistische Unternehmen „InFacts“ gegründet, das sich zum Ziel gesetzt hat, durch Faktenchecks die falschen Behauptungen der „Leave“-Kampagne zu entlarven. Allen voran die ständig kolportierten 350 Millionen Euro, die England wöchentlich an Brüssel überweisen soll, wie es auf Boris Johnsons „Battle Bus“ gestanden hatte.
Und nächstes Jahr steigt die Arbeitslosenquote
Sieben Richtigstellungen falscher „Fakten“ in britischen Zeitungen haben Dixon und sein siebenköpfiges Team in aller Nüchternheit mit ihrer Arbeit in den vergangenen Wochen erzwungen. Die letzte erschien am Referendumstag selber, als der „Daily Express“ eine Zahl über die gestiegenen Bildungskosten für Kinder korrigieren musste, die er fälschlicherweise Migranten zugeschrieben hatte. Aber nun ist das englische Pfund im Keller und die Stimmung auch. England hat sich aus der EU herausgewürfelt und nun ist es Zeit für die Notfallpläne in all dem Chaos – auch an den Börsen.
Dixon will keine Küken zählen, die noch nicht geschlüpft sind. Noch ist es nur ein Fall der Währung, aber sehr bald, sagt Hugo Dixon, würden die ersten Folgen dieser Wahl für jeden im Land spürbar werden: Das schlappe Pfund, das in den ersten Stunden des Freitages auf ein 30-Jahres-Tief gegenüber dem Dollar gefallen ist, werden die Briten schon im kommenden Sommerurlaub verfluchen. Dann werden im Inland die Preise fallen. Im nächsten Jahr werde dann die Arbeitslosenrate steigen. „Nun geht es darum, die Verluste zu minimieren.“
Entscheidung am Frühstückstisch: "englisch" oder "kontinental"?
Das Land, in dem man sich traditionell jeden Morgen aufs Neue für England oder den Kontinent entscheiden muss, Referendum hin oder her, ob man also ein „englisches“, oder „kontinentales“ Frühstück vorzieht, ist soeben als Mini-Empire aufgewacht. Wenn es die Schotten ernst meinen, dann wird aus Great bald Little Britain. Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon nämlich hält ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum für „höchst wahrscheinlich“, sagt sie. Sie werde sich dafür einsetzen, Schottlands Platz in der EU zu sichern.
Werden nun die, die gehofft hatten, durch einen Austritt wieder „souverän“ zu werden, merken, dass sie vielleicht einfach nur alleine sind?
Mindestens hätte man ein kleines, erdbebenhaftes Zittern erwartet in der Nacht, das die Größe des historischen Moments verdeutlicht. Aber die Unwetter haben sich gelegt, die meisten Überflutungen sind wieder abgelaufen, die das dramatische Bühnenbild für die Wahl gegeben hatten. Die Toasts sprangen aus den Toastern wie an jedem Morgen, worauf die Menschen ihre Autos besteigen, denn Rush-hour bleibt halt die Rush-hour und so fahren Hunderttausende Pendler hinein in das London, das so aussieht wie gestern und doch bald ein ganz anderes wird.
Es ist nicht mehr dasselbe Land
Der drahtige Dixon hatte sich nach einem langen Schreibtischtag am Wahlabend vorausschauend eine Massage gegönnt. Er ist nach Hause geradelt, wo er 40 Leute erwartete, die bei einer Party ihre Monate der Arbeit begießen wollten. Er hat noch etwas Yoga gemacht, um sich zu entspannen, aber als die ersten Auszählungsergebnisse von Newcastle reinkamen mitten in der Nacht, war ihnen klar, dass es knapper würde als erwartet. Dixon entschied sich für sein Bett, aber länger als anderthalb Stunden konnte er nicht schlafen. Als er gegen fünf aufwachte, war ihm schlecht. „War das jetzt etwa psychosomatisch?“ Er ging nach unten ins Wohnzimmer, wo die letzten Gäste seiner Party noch immer vor dem Fernseher saßen. England war nicht mehr dasselbe Land.
Nun, am Vormittag der neuen britischen Zeitrechnung, an Tag eins des „Kleinen Empires“, hat die Welt bereits in Nigel Farages lachendes Gesicht geschaut, verzerrt zu einer Fratze. Gesehen, wie er vor seinen Anhängern rief: „Der euroskeptische Geist ist aus der Flasche - und er wird dorthin nicht zurückkehren! Die EU ist am Ende! Die EU ist tot!“ Der englische Premier David Cameron hat vor seinem Amtsitz in der Downing Street 10 gesagt, er sei nicht mehr „der richtige Kapitän (...), der unser Land an einen neunen Bestimmungsort steuert.“ Im Oktober will er zurücktreten. Das hat er später im Buckingham-Palast auch Königin Elizabeth berichtet. Marine le Pen in Frankreich hat nun Oberwasser und Referenden in ganz Europa gefordert. Die Bank of England hat 250 Milliarden Pfund versprochen, um das weitere Funktionieren der Märkte zu garantieren. Und europäische Politiker haben ihr Bedauern geäußert, das wie Beileid klang. Angela Merkels Miene wäre einem Todesfall angemessen.
Alles wie zuvor?
In Westminster versammelt sich das Team von „InFacts“ derweil vor einem Bildschirm, denn nun spricht Boris Johnson und behauptet, ganz viel bliebe jetzt beim Alten – und Großbritannien quasi so europäisch wie zuvor. Aber wurde deshalb gewählt? Rudert da einer zurück? Die Männer vor dem Bildschirm schnauben.
Man könnte meinen, dass an einem Tag wie heute in London die Hölle los ist. Tatsächlich aber ist die wie frisch gewaschene, nun freundlich besonnte Hauptstadt am Freitag, den die Börsenmakler schon vor Öffnung der Märkte schwarz nannten, viel ruhiger, als am Tag der Wahl. Die rufenden Aktivisten, die noch gestern vor jeder größeren U-Bahn-Station die Wähler motivieren wollten, sind verstummt, die Schlangen vor den Wahllokalen verschwunden. Die Leute, die heute Flugblätter verteilen, werben in unbeteiligter Professionalität für Rabattaktionen, beim Optiker „Specsavers“ zum Beispiel, denn da kauft man sich für einen klaren Durchblick einfach eine Brille.
Fakten bringen nichts, nur Emotionen
In der Victoria Street 83 schreibt Hugo Dixon einen ersten Artikel für seine Seite, „Acht Do's und Don'ts nach Camerons Rücktritt“. Sein Kollege Michael Prest, der schon im ersten Referendum 1975 für die EU gestimmt hat, versucht, die ersten Lehren aus diesem Wahlkampf zu ziehen. Über Jahre, sagt der 68-jährige, sei in der Öffentlichkeit das Bild eines schwachen England gezeichnet worden. „Viele wissen gar nicht, dass Großbritannien in der EU ein wichtiger Player war.“ Er spricht schon in der Vergangenheit, dabei wird es nach Artikel 50 noch mindestens zwei Jahre dauern, bis das Land wirklich aus der EU heraus ist. Als schlechteste Vision sieht Prest eine Position wie Norwegen, das Beiträge zahlt, aber keine Stimme hat. Vermutlich werde sich England in Zukunft an Regeln der EU halten müssen, ohne sie mitgestalten zu können.
Und dann dieser Cameron, der einen lehre, dass man mit einem halbherzigen Wahlkampf nirgendwo hinkommt. Bei dem wichtigen Thema Immigration habe der Premier keine Glaubwürdigkeit gehabt. Dann sagt er: „Nüchterne Fakten und Beweise bringen einen nur bis an einen bestimmten Punkt.“ Und dass diese Wahl über Emotionen entschieden wurde.
Danach ist also die große Stärke von „InFacts“, nämlich eben unaufgeregt die Fakten aufzudröseln zugleich seine Schwäche?
Soll doch London die Unabhängigkeit von England erklären!
Sicher, denn die Wahl hatte auch Elemente von persönlicher Rache an Leuten, die viele immer auf der Gewinnerseite gesehen haben. „Da haben viele Leute nach 20, 30 Jahren zum ersten Mal gewählt.“ Es war keine Debatte mehr, es war ein Kampf. Ein Klassenkampf: Zwischen den Leuten, die sich gerne als die „Kleinen“ bezeichnen, nun aber in einer große Mehrheit zu sein scheinen, und denen, die vom freien Austausch an den Unis und den Märkten direkt profitieren. Es ist ja offensichtlich, dass vor allem die Leute auf dem Land für den Austritt gestimmt haben. „Hier in London sitzen natürlich überdurchschnittlich viele Leute, die von der EU Vorteile haben.“ Leute wie er, der 68-jährige Journalist, der auch einmal in Washington für die Weltbank gearbeitet hat. Leute mit Ausbildung und Erfahrung, die die Mittel haben, um sich durch diese Realität zu bewegen. Viele andere hätten den Anschluss verloren.
Dann poppt auf Michael Prests Handy die SMS einer deutsche Nachbarin auf: Vielleicht solle London nun seine Unabhängigkeit von England erklären!
Viele Zweifler stimmten für den Brexit
Prest wohnt mit seiner Frau Lucy Hodges im Stadtteil Highbury, wo in den 70er Jahren durch Margaret Thatchers Politik wie überall die Sozialwohnungen verkauft und die Ärmeren aus den inneren Vierteln herausgedrängt wurden. Hinter einem hölzernen Gartentor, umgeben von einem gepflegten Garten, liegt ihr Haus.
Lucy Hodges engagiert sich schon seit Ewigkeiten für die Labourpartei. Und seit ein paar Wochen für die In-Kampagne. Am Wahltag hat sie sich noch als Freiwillige vor einem Shopping Center in der Holloway Road in Islington von Brexit-Fans beschimpfen lassen. Sie hat versucht, auf den letzten Metern noch Boden gut zu machen. Sie hat sich vor eine Schule gestellt und hat dann, als alle Eltern ihre Kinder abgeholt hatten, in strömendem Regen noch eine Runde an den Haustüren eingelegt. Sie hatte dabei viele Zweifler getroffen, die aber trotzdem für den Austritt stimmen würden. Einfach mal so. Aus Protest. Damit sich etwas ändert. Und weil es sowieso bei einem „Remain“ bleiben würde.
Lucy Hodges hat, da war ihr Mann gerade bei der Weltbank in Washington, fünf Jahre als Journalistin für die „Times“ aus den USA berichtet. Später hat sie das Bildungsressort des „Indepenent“ geleitet. Auch sie hat 1975 beim ersten EU Referendum mit Ja gestimmt und so einen Wahlkampf wie diesen hier, einen so aggressiven, bissigen Ton, das hat sie noch nie erlebt. Während sie am Wahltag in ihrem Kampagnen-T-Shirt eine Möhren-Linsen-Suppe erhitzte, hatte sie von der Verwirrung der Leute gesprochen, die mit den gleichen Wünschen – Immigration, Jobs – für verschiedene Lager sein konnten.
Ihr Nachbar ist jetzt ein reicher Mann
Viele Leute haben nun „Leave“ gewählt, um den Eliten eines auszuwischen – im sicheren Glauben, dass ihr Wunsch sowieso nicht in Erfüllung geht. Vermutlich werden viele arme Teufel in den nächsten Jahren feststellen, dass sie schon wieder vor jemandes Karren gespannt worden sind. Und dass die beeindruckenden Zahlen, mit denen man sie köderte, nicht stimmen. Das endgültige Ergebnis der Wahl war noch kaum durchgesickert, da hat Nigel Farage schon per Twitter verkündet, dass das mit den 350 EU-Millionen, die das Land in Zukunft wöchentlich wieder für sich habe, nichts werden würde.
Die Büros von „InFacts“ in Westminster sind temporär gemietet, die Verträge aller Mitarbeiter laufen zum 30. Juni aus. Aber möglicherweise wird es dieses Büro, das kleinteilig versucht hat, die unhaltbaren Versprechungen der „Leave“-Kampagne zu widerlegen, gar nicht mehr brauchen. Die Versprechungen werden sich ganz von selbst entlarven. Die Leute werden merken, dass mit dem Spruch „Take back control“ nicht die Wähler persönlich gemeint waren. Sondern vielleicht jemand wie Boris Johnson, der diese Debatte genutzt hat, um sich für Downing Street 10, für den Posten des Premierministers, in Stellung zu bringen.
Er hat beste Chancen auf das Amt und sieht nun ganz plötzlich für einen Austritt aus der EU „keinen Grund zur Eile“ mehr.
Ein Nachbar von Lucy Hodges’ Sommerhaus in Norfolk, ein deutscher Händler aus der City, habe die Meinung vertreten, das störrische England solle man aus der EU kicken, erzählt sie. Er habe daraufhin eine riesige Finanz-Wette auf den Ausstieg platziert. Wenn Hodges und ihr Mann das nächste Mal in ihr Haus nach Norfolk fahren, werden sie einen sehr reichen Mann treffen.