zum Hauptinhalt
Altbundespräsident Joachim Gauck hat eine wichtige Debatte angestoßen.
© SWR/WDR/Herby Sachs

Nach Aussagen von Ex-Bundespräsident Gauck: Union und SPD suchen den „richtigen Umgang“

Die AfD erobert den Osten, die Grünen erklimmen neuen Höhen: Das bringt ganz neue, unangenehme Debatten in die Koalitionsparteien.

Joachim Gauck rät dazu, auch Grautöne zu sehen, nicht immer nur schwarz und weiß. "Wir müssen zwischen rechts – im Sinne von konservativ – und rechtsextremistisch oder rechtsradikal unterscheiden", sagt der frühere Bundespräsident in einem Interview mit dem "Spiegel". Er wirbt für eine "erweiterte Toleranz in Richtung rechts" und befeuert damit eine Debatte, die in unterschiedlichen Schattierungen die große Koalition voll in Anspruch nimmt.

Wie halten wir es mit der AfD auf der einen und mit den Grünen auf der anderen Seite? Kopieren, attackieren, umarmen? Die Zeiten, in denen es parteipolitisch übersichtlich war und ein ernst dreinschauender Konrad Adenauer mit dem Slogan "Keine Experimente" 1957 die absolute Mehrheit für die Union holte, sind lange passé.

Die neue Unübersichtlichkeit, die gespaltene Gesellschaft bringt einiges ins Rutschen, und es gibt zu viel Twitter-Aufregung statt kontrovers-fairer Debatten. Gerade die CDU war lange Zeit ein Stabilitätsanker, nun ist sie unsicher wie selten. Und die SPD ist bereits im Existenzkampf.

Abgrenzung vs. Umarmung

Vor fünf Jahren sagte Volker Kauder, der damalige Unions-Fraktionschef im Bundestag, zu der Möglichkeit, dass er wegen der aufstrebenden AfD nun häufiger in Talkshows neben einem AfD-Politiker sitzen könnte: "Mit denen möchte ich nicht in Talkshows sitzen." Das hat sich geändert, einen Boykott in Talkshows gibt es nicht mehr. Längst fragen sich viele, ob der Ausschluss einer Koalition mit der AfD in Sachsen nach der Landtagswahl am 1. September noch gilt, wenn Ministerpräsident Michael Kretschmer mit der CDU nur auf Platz zwei landen und womöglich zum Rücktritt gedrängt würde. Das Tabu bröckelt.

Wenn man zum Beispiel die Versprechen des AfD-Kandidaten Sebastian Wippel vor der Stichwahl um das Oberbürgermeisteramt in Görlitz las, waren die meisten auch für CDU-Anhänger zu unterschreiben: Gewerbesteuer senken, keine Sonderabgaben für Straßenausbauten, weniger Bürokratie. Als Reaktion auf die Grenzkriminalität soll es für Unternehmen überwachte Abstellgelände geben, im Kampf gegen Vandalismus soll mehr Videotechnik eingesetzt werden, aber nicht auf Kosten von Personal. "Denn im Kampf gegen Drogen, Gewalt, Vandalismus und eine allgemeine Verwahrlosung im öffentlichen Raum helfen häufig nur die direkte Ansprache und Ahndung."

Das Thema Flüchtlinge oder andere AfD-Themen mit Verhetzungspotenzial spielen da keine Rolle. Die Werteunion, der konservative Flüge der CDU fordert längst mehr Offenheit. Dem steht das liberale Unions-Lager gegenüber, das die AfD als Wolf im Schafspelz sieht. Erinnert wird von Experten immer wieder an die gescheiterte Umarmungs- und Einbindungsstrategie des konservativen Lagers mit Hitler am Ende der Weimarer Republik.

Dänisches Dynamit

Die SPD fährt allein schon aufgrund der Geschichte – die Sozialdemokraten stimmten als einzige Partei gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz, das die Weimar Republik endgültig beerdigte und die Diktatur legitimierte – einen sehr klaren Kurs in Bezug auf die AfD. "Ich rede nicht mit Rechtsradikalen", sagt der SPD-Abgeordnete Johannes Kahrs. Ex-Parteichef Martin Schulz wünschte AfD-Fraktionschef Alexander Gauland auf den "Misthaufen der Geschichte". Doch auch hier knirscht es im Gebälk. Denn die SPD hat besonders viele Wähler an die AfD verloren, auch Mitglieder.

So wird nun der Erfolg der dänischen Sozialdemokraten um Mette Frederiksen besonders intensiv diskutiert. Ist es zum Beispiel verwerflich, für staatliche Leistungen von Zuwanderern im Gegenzug Arbeitseinsätze zu fordern, auf eine Kindergartenpflicht zu pochen, mit staatlicher Quartierplanung das Entstehen von Vierteln mit einer mehrheitlich ausländischen Bevölkerung zu verhindern oder Abschiebungen von Straftätern zu beschleunigen? "Gesellschaftspolitisch nach rechts zu gehen, kommt für uns nicht infrage", sagte SPD-Vizechef Ralf Stegner zum Modell Dänemark – die SPD bleibe ein "Bollwerk gegen Rechtspopulisten und Rechtsextreme".

Während die SPD aber von den Umfragewerten her ein immer kleineres Bollwerk wird, gewannen die dänischen Genossen mit ihrem Kurs eine Wahl, punkteten vor allem auch im klassischen Arbeitermilieu, während die rechtspopulistische Dänische Volkspartei auf 8,7 Prozent abstürzte – nach 21,1 Prozent bei der Parlamentswahl 2015. Es ist sozusagen ein Dritter Weg zwischen offenen Grenzen und Abschottung, bei gleichzeitigem Erhalt klassischer Sozialpolitik.

Inhalte überwinden

Ein anderer Unruheherd ist der Umgang mit den Umfragekönigen der Grünen. Auch einige Medien müssen sich inzwischen den Vorwurf gefallen lassen, Teil einer großen Grünen-Wohlfühlkampagne zu sein. Es wird mitunter weniger über Inhalte berichtet und gefragt, ob die grünen Versprechungen einem Realitätscheck standhalten, dafür zum Beispiel darüber, wie lange Robert Habeck morgens zum Richten seiner Wuschelfrisur braucht. "Inhalte überwinden", lautet ein Slogan der Satirepartei "Die Partei". Wenn der kommissarische SPD-Chef Thorsten Schäfer-Gümbel nun in Zeiten großer Not ein neues Grundsatzprogramm fordert, stöhnen einige Kollegen im Vorstand auf.

Es wird insgesamt komplizierter, mit komplexen Inhalten zu punkten, und mit Programmen, die über die Partei hinaus kaum jemand liest. Personen scheinen nach Wahlen wie in Frankreich (Emmanuel Macron) und den USA (Donald Trump) auch in Deutschland wichtiger zu werden. Wobei – Stichwort Adenauer – das in der bundesdeutschen Demokratie jetzt auch kein neues Phänomen ist.

Das unbestritten große Plus der Grünen: Habeck und seine Co-Chefin Annalena Baerbock kommen authentisch, frisch und cool rüber, sie touren durchs Land, hören zu. Das machen auch viele andere, vorbildhaft sind die Sachsengespräche von Ministerpräsident Kretschmer, der immer sein ganzes Kabinett mit in die Provinz nimmt. Mit 150 bis 400 Bürgern wird diskutiert - und das Diskutierte danach in konkretes Handeln umgesetzt. Aber es geht derzeit weniger um Inhalte als um Personen: Habeck würde laut einer neuen Umfrage bei einer Direktwahl des Kanzlers die drei abgefragten CDU-Kandidaten Annegret Kramp-Karrenbauer, Armin Laschet und Friedrich Merz ebenso hinter sich lassen, wie SPD-Vizekanzler Olaf Scholz. „Wenn es die Umfragen weiterhin hergeben, bin ich für eine klare Kanzlerkandidatur und gegen eine Doppelspitze bei der nächsten Bundestagswahl“, fordert nun bereits der bayerische Grünen-Fraktionschef Ludwig Hartmann in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“.

Attacke oder Hinterherlaufen

Plötzlich will sogar Angela Merkel wieder Klimakanzlerin werden. Die Schüler der Friday-for-Future-Bewegung, die Abrechnung des Youtubers Rezo, der Grünen-Höhenflug, all das treibt Union und SPD. "Wir brauchen jetzt den großen Wurf", sagt ein Regierungsmitglied. Bis September soll ein großes Klimaschutzpaket stehen, das einen Spagat schafft zwischen mehr Klimaschutz und dem Verhindern einer deutschen Gelbwestenbewegung. Sprich: Klimaziele erfüllen, aber keine zu starken Belastungen der Wirtschaft - sowie Pendlern und einkommensschwachen Haushalten durch eine stärkere CO2-Bepreisung.

Aber inzwischen dämmert es Union wie SPD, dass ein reines Hinterherlaufen nichts bringt. Die Union sorgt sich um den industriellen Kern des Landes, die SPD will weitere Stukturbrüche wie im Ruhrgebiet vermeiden und pocht auf eine sozial ausgewogene Lösung. Der kommissarische SPD-Chef Schäfer-Gümbel sagt den Grünen eine harte Landung voraus, wenn sie in Regierungsverantwortung kommen sollten, denn die Kassen sind nicht mehr so prall gefüllt wie in den letzten Jahren. „Dann müssen sie konkret werden – und darauf sind sie nicht vorbereitet,“ sagt er. Schäfer-Gümbel versuchte es jüngst mit Attacke auf die Grünen-Politik, erschrak dann vor dem Unmut und entschuldigte sich. Doch vielleicht täte mehr Streit über Inhalte und Konzepte gut.

Die richtige Reaktion und die Fehlerkultur

Bei der CDU muss der junge Bundestagsabgeordnete Philipp Amthor oft in die Bütt, um die Welle im Netz zu brechen, doch die beste Figur macht seit Wochen Diana Kinnert (28), die schon Mitglied der Reformkommission der CDU war, aber danach vielleicht nicht genug eingebunden wurde. Sie fand einen viel besseren Draht zu der Rezo-Gemeinde, als etwa Amthor oder Generalsekretär Paul Ziemiak.

Und es ist ausgerechnet der frühere Generalsekretär Ruprecht Polenz, der im Alter von 73 Jahren viel Respekt für die CDU bei Twitter einheimst, weil er auf Gegner eingeht, eigene Positionen in Frage stellt, mehr Einsatz zum Klimaschutz von der Regierung verlangt. Er zeigt, wie es gehen kann. Dass noch nicht alles in Sachen Diskursfähigkeit und des Miteinander-wieder-ins-Gespräch kommen verloren ist, erfuhr letztens auch der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter.

Er entschuldigte sich via Twitter für das Weiterverbreiten falscher Informationen über den CDU-Kritiker Rezo („Ich habe einen großen Fehler gemacht.“). Das zeigt: Auch so ein Experiment, einmal Selbstkritik zu üben, kann den Diskurs gerade im Netz beleben – und helfen, Mauern in den Köpfen zu überwinden. All das zeigt: Die gespaltene Gesellschaft zu einen, das wird nicht nur für Union und SPD ein langer Weg.

Zur Startseite