Linken-Politiker über EU-Grenzschutz: "Unglaublich schwer, Frontex-Skandale zum Skandal zu machen"
Der Bruch von Menschenrechten an EU-Außengrenzen werde normal, sagt der Linken-Abgeordnete Michel Brandt. Engagement dagegen sei inzwischen politisch folgenlos.
Beteiligung an illegalen Rückschiebungen von Flüchtlingen, Duldung solcher Pushbacks, geschönte Berichte über menschenrechtswidrige Einsätze: Die europäische Öffentlichkeit weiß inzwischen ziemlich viel Skandalöses über die Grenzschutzbehörde Frontex. Aber richtig Aufsehen macht das nicht, oder?
Leider nein.
Woran liegt das?
Frontex ist eine große Unbekannte, die jahrelang unter dem Radar der Öffentlichkeit blieb. Deshalb ist es unglaublich schwer, Skandalöses auch zum Skandal zu machen. Das kommt in der Breite einfach nicht bei den Leuten an. So ist selbst der Chef der Agentur, Fabrice Leggeri, noch im Amt. Dabei gibt es Beweise, dass er von Pushbacks wusste und sie dennoch nicht beendet hat. Seine Agentur hat sich auch mit der Waffenlobby getroffen, mit Leuten, die nicht im EU-Transparenzregister stehen. Allein das würde für einen Rücktritt reichen. Aber nicht einmal da tut sich was – auch wenn die Person natürlich nicht mehr als ein Symptom eines viel größeren Problems ist.
Die EU will jetzt aber einen Untersuchungsausschuss einsetzen?
Das formulierte Ziel herauszufinden, ob es Menschenrechtsverletzungen gegeben hat, ist absurd. Die Beweise sind längst da, es gibt zahlreiche Dokumentationen illegaler Pushbacks, die eindeutig gegen EU-Recht verstoßen. Also wir wissen längst, was ein Ausschuss herausfinden wollen würde, die Recherchen etlicher Medien sind mehr als eindeutig. Insofern ist die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses in meinen Augen nichts anderes als der Versuch, Zeit zu gewinnen.
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Sie glauben wirklich, es wird sich nichts tun?
Ich rechne damit, dass etwas Kosmetik für die Öffentlichkeit am Ende stehen wird. Leggeri wird wohl gehen müssen, womit sich der Eindruck erzeugen lässt, das Problem sei gelöst. Aber das ist es nicht.
Warum?
Wir hatten im letzten Jahr zwischen März und Dezember fast 10.000 dokumentierte Pushbacks in der Ägäis. Dabei sind die Rechtsgrundlagen klar: Wenn das in nationaler Verantwortung an einer EU-Grenze passiert, muss Frontex sich zurückziehen. In Ungarn ist das auch geschehen, aber nicht in der Ägäis. Das heißt für mich, dass Europa hinter diesem Vorgehen steht und Frontex längst stillschweigend die Aufgabe hat, nicht seinen Pflichten gemäß zu handeln – dazu gehört auch die Einhaltung von Menschenrechten - sondern aktiv die Festung Europa auszubauen, notfalls gegen die geltenden Normen.
Die Behörde hat in den letzten Jahren ihr Budget erheblich vergrößern können und mehr Einsatzrechte bekommen.
Und jetzt soll sie auch noch bewaffnet werden. Soll das die Konsequenz aus den Rechtsbrüchen von Frontex sein?
Was sollte aus Ihrer Sicht passieren?
Fürs erste hätte Deutschland die Pflicht, seine Polizeibeamtinnen und -beamten aus Frontex-Einsätzen zurückziehen. Da das Bundesinnenministerium für die Bundespolizei nicht dazu bereit war, haben wir als Die Linke das von den Landesregierungen gefordert. Das wäre eher ein symbolischer Schritt, denn es ist vor allem Bundespolizei, die da im Einsatz ist. Aber er wäre nötig, um die Dramatik der Vorgänge deutlich zu machen: Wir haben es da nicht mit kleinen Unregelmäßigkeiten im Eifer eines Einsatzes zu tun, sondern damit, dass seit Jahren systematisch Menschen daran gehindert werden, ihre Rechte wahrzunehmen. Und anscheinend ist Europa weit darin gekommen, dass eine sonst kritische Öffentlichkeit das hinnimmt.
Das stimmt so nicht, das bürgerschaftliche Engagement gegen das Sterbenlassen auf der Flucht und die Lager auf den griechischen Inseln wächst ja auch: Seit Jahren gibt es private Seenotrettung, europäische Städte, auch im EU-Osten, erklären sich zu sicheren Häfen und sind bereit, Geflüchtete aufzunehmen.
Darüber bin ich sehr froh. Auch Grüne und SPD unterstützen das sehr oft. Nur setzt sich das politisch überhaupt nicht mehr um. Die Festung Europa entwickelt sich seit Jahren immer nur in eine Richtung: Aufrüstung der Grenzen, immer massivere Abschiebung und Abschreckung. Es gibt die NGOs, die retten, aber die wurden und werden kriminalisiert. Dann hat Europa die libysche Küstenwache aufgerüstet. Inzwischen werden schon Wasserstellen in der Wüste im europäischen Auftrag bewacht. Auf dem Weg zum Mittelmeer könnte es Schätzungen der IOM zufolge mittlerweile mehr Tote als im Meer geben. Das Sterben wird immer brutaler und immer unsichtbarer. Gleichzeitig gab es über die Skandale von Frontex im Bundestag noch keine einzige Plenardebatte. Höchstens im Menschenrechtsausschuss wird das einmal zum Thema. Das findet einfach nicht statt.
Nun ist gerade Corona das beherrschende Thema.
Das hindert uns aber nicht, im Parlament auch über andere Themen zu reden – zum Glück. Aber über dieses Thema nicht. Das ist ein generelles Problem der ganzen Menschenrechtspolitik. Nehmen sie Erdogan, der seit Jahren Hunderte HDP-Politiker:innen in Haft hält. Wir hätten Druckmittel gegen ihn, aber auch das fällt untern Tisch. Mein Eindruck ist: Wir reden gern über Menschenrechte, wenn wir mit dem Finger auf andere zeigen können. Und ziemlich ungern über Menschenrechtsverstöße, gegen die wir selbst etwas tun könnten.
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