Protestforscher über Fridays For Future: Und wenn jemand beim Hungerstreik stirbt, Herr Sommer?
Hungerstreikende sind eine Minderheit in der Klimabewegung, sagt Sozialforscher Sommer. Doch je radikaler sie sind, desto mehr Rückhalt können sie verlieren.
Moritz Sommer ist Protestforscher am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) in Berlin und Vorstand des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung. Der 35-Jährige beobachtet als politischer Soziologe die deutsche Klimabewegung und hat unter anderem zur Strategie und Altersstruktur von „Fridays for Future“ geforscht.
Herr Sommer, in ganz Deutschland gehen Menschen auf die Straße und demonstrieren vor der Bundestagswahl für entschlossenen Klimaschutz. Wie groß ist der Einfluss von „Fridays for Future“ auf die Politik?
Soziale Bewegungen haben oft eher einen indirekten Einfluss auf die Politik. Deswegen lässt sich das nicht genau nachmessen. Aber die Bewegung hat in der Bevölkerung das Problembewusstsein bezüglich des Klimawandels gestärkt und auf diese Weise bereits viel erreicht.
Vor der Pandemie ließ sich in den Umfragen eindeutig beobachten, wie der Klimaschutz parallel zum Aufstieg der Klimabewegung an Bedeutung gewann. Indirekt ist die Massenmobilisierung ein Grund dafür, dass die Grünen in den Wahlumfragen ihre Stimmanteile verdoppeln konnten.
Die Klimabewegung beteuert zwar, keinen Lobbyismus für die Grünen zu betreiben, am Ende profitieren dennoch die Grünen. In den Wahlumfragen liegt die Partei derzeit auf Platz 3. Wie lässt sich das erklären?
Politische Debatten unterliegen Konjunkturen. Mit den Klimastreiks im Herbst 2019 wurden die Grünen in den Umfragen sehr stark. Jetzt geht es vielen Menschen auch um die Bewältigung der Corona-Pandemie und andere Themen. Deshalb sehen große Teile der Bevölkerung die Wahl nicht unbedingt als Klimawahl an. Das erklärt, warum etablierte Parteien wie CDU/CSU und die SPD in den Umfragen wieder vor den Grünen liegen.
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Gibt es bestimmte Erfolge, die die Klimabewegung für sich verbuchen kann?
Es ist sehr schwer, die Beweggründe für politische Entscheidungen auf nur einen Faktor zurückzuführen. Aber als die Große Koalition im Herbst 2019 ihr Klimapaket und die nationale CO₂-Bepreisung beschlossen hat, lag das auch am öffentlichen Druck durch die Klimabewegung. Das würden die Regierungsparteien nur niemals so sagen. Die Grünen nutzten die Situation im Bundesrat anschließend, um einen noch höheren CO₂-Preis durchzusetzen. Man könnte also sagen: die Klimabewegung treibt graduelle Veränderungen voran.
In Berlin hungern seit mehr als drei Wochen junge Klimaaktivist:innen vor dem Reichstagsgebäude, nun wollen sie auch in den Durststreik treten. Was passiert, wenn jemand stirbt – welche Folgen könnte das für die Bewegung haben?
Ich möchte nicht darüber spekulieren, dass jemand bei einem Hungerstreik stirbt. Welche Folgen so ein Tod haben könnte lässt sich nur schwer beantworten. Der Hungerstreik ist ein sehr radikales Mittel, das auch große Teile der Klimabewegung kritisch sehen.
Zudem geht die Klimabewegung weit über „Fridays For Future“ hinaus – da ist es normal, dass bestimmte Gruppen ihren Protest mit verschiedenen Strategien auf die Straße tragen. Das gilt auch für zivilen Ungehorsam in Form von Straßenblockaden. Bei „Fridays For Future“ geht es vor allem um niedrigschwellige Formen der Demonstration wie eben den „Schulstreik“. Insgesamt gilt aber: Je radikaler eine Bewegung auftritt, desto schwieriger wird es für sie, den Rückhalt in der Bevölkerung aufrechtzuerhalten.
Wie sehr kann der Hungerstreik als eine Art Radikalisierung gedeutet werden?
Die Klimabewegung ist extrem groß, und es sind nur einige wenige Personen im Hungerstreik. Eine Radikalisierung ist deshalb nicht zu beobachten – ganz anders als zum Beispiel bei der Bewegung der selbsternannten „Querdenker“. Es wäre jedenfalls unangemessen, das Mittel des Hungerstreiks der gesamten Klimabewegung zuzuschreiben.
Wie hat sich die Klimabewegung im Laufe der Zeit verändert?
In früheren Befragungen von Demonstrierenden hat sich gezeigt, dass „Fridays for Future“ im Herbst 2019 noch ganz klar von Jugendlichen und Kindern getragen wurde. Das hat sich zum Teil geändert: die Bewegung hat mittlerweile Wissenschaftler, Unternehmer, Eltern und Senioren an Bord geholt. Doch es ist noch immer eine sehr junge Bewegung.
Geändert hat sich auch ihre Taktik: Anfangs ging es um Schulstreiks, und die bilden auch heute noch der Markenkern der Bewegung. Der Schule fernzubleiben war ein Konflikt und ein Anlass, den eigenen Standpunkt darzulegen und so das politische Bewusstsein zu festigen. Durch die Pandemie hat sich der Klimaprotest zeitweise ins Digitale verlegt.
Aber es wurden in dieser Zeit auch Protestplakate vor dem Reichstagsgebäude ausgelegt und ähnliche Aktionen durchgeführt. Tagebauanlagen in Braunkohlegebieten zu besetzen stellt eine weitere Protestform der Klimabewegung dar. Doch es gibt auch inhaltliche Weiterentwicklungen – zum Beispiel, indem der Klimaschutz heute stärker mit der sozialen Frage oder dem Kampf gegen Diskriminierung verbunden wird.
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Vor welchen Herausforderungen steht „Fridays for Future“?
Wenn die Klimabewegung an ihre Erfolge von 2019 anknüpfen will, braucht es ein Momentum. Entscheidend werden hier die Koalitionsverhandlungen einer neuen Bundesregierung sein. Dann kann die Bewegung wieder Menschen mobilisieren und Druck ausüben. Ob sie damit Erfolg haben wird, das bleibt offen.
Immer wieder kritisiert die Klimabewegung, die Parteien scheiterten mit ihren Wahlprogrammen an der 1,5-Grad-Grenze. Ist der Druck durch „Fridays for Future“ also noch immer nicht groß genug?
Es ist ganz normal, dass Bewegungen in der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung immer nur graduelle Veränderungen bewirken – in diesem Fall eben beim Klimaschutz. Es wäre vermessen zu erwarten, dass Parteien alle Forderungen der Klimabewegung übernehmen. Sie müssen schlicht auch noch andere Wählerinteressen im Blick behalten. Gleichzeitig muss die Klimabewegung so lange unzufrieden bleiben mit dem, was die Politik ihnen bietet, bis sie auf entschlossene Maßnahmen zum Klimaschutz zählen kann.
Das Interview führte Sinan Reçber.
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