Auf dem Weg nach Deutschland: Und plötzlich steht der Flüchtling da
"Please, help me!" – Wie eine Bahnreise aus dem Urlaub zu einer Konfrontation und zu kritischer Selbstbefragung führt. Ein Erlebnisbericht.
Eine Zugfahrt von Meran nach München, umsteigen in Bozen, Wartezeit. Ein schöner Urlaub ist zu Ende, unbeschwertes Gefühl. Es ist heiß, mein Shirt klebt am Körper. Auf dem Bahnsteig stehen kaum Reisende. Da fallen sie richtig auf: die vielen Frauen und Männer, die blaue Warnwesten tragen und unermüdlich Wasserflaschen und Essenspakete an Flüchtlinge verteilen. Es sind viele Migranten. Die meisten von ihnen kommen aus Afrika. Sie stehen und sitzen in Grüppchen im Schatten. Einige tragen dicke Jacken. Italiens Bahnhöfe, erklärt ein Pendler, befinden sich im Ausnahmezustand.
Auf dem Bahnhof von Bozen ist für viele Zwischenstation
Das wissen wir: Seit Anfang des Jahres schwappt eine beispiellose Flüchtlingswelle nach Europa. Laut der Internationalen Organisation für Migration kamen seit Jahresbeginn rund 102.000 Menschen über das Mittelmeer in Europa an. Italien ist für viele Flüchtlinge die erste Anlaufstelle. Wer im Süden das Land erreicht, boxt sich oft weiter durch. Weiter Richtung Deutschland oder nach Skandinavien. Hier im kleinen Bahnhof von Bozen ist für viele erst einmal Zwischenstation, überwacht von der Polizei. Männer in blauen Uniformen, ernster Blick, stehen schweigend auf dem Bahnsteig zwischen den Reisenden.
Bremsen quietschen. Die Türen des Eurocitys gehen auf. Reisende kommen heraus, wir steigen ein. Ich finde ein fast leeres Abteil, eine Frau und ein Mann, beide aus Südtirol, nehmen auch darin Platz. Mit uns steigt etwa ein Dutzend Flüchtlinge in den Wagen ein. Alles Männer, einige bleiben auf dem Gang, sitzend, stehend. Andere verschwinden im nächsten Abteil. Ziemlich viele sogar. Ich wundere mich. Auch einige Polizisten betreten jetzt den Zug. Es ruckelt. Der Zug fährt an.
Er möchte nicht sitzen - er möchte sich verstecken
Ich will mich in mein Buch vertiefen, da huscht ein Schatten an mir vorbei und wieder zurück. Die Schiebetür zum Abteil geht auf: "Please help me", flüstert er. Bitte hilf mir. Ich sehe auf. Vor uns steht ein junger schwarzer Mann. Seine Hose schlottert um die schmalen Beine, sein roter Fleecepulli hängt ihm viel zu weit über die Schultern. Beide Hände halten eine Plastiktüte fest umschlossen. Ich klappe mein Buch zu: "Wie kann ich helfen?" Er deutet zu den Sitzen. Ob er sich setzen möchte, frage ich auf Englisch. Er zeigt auf den Boden. Jetzt verstehe ich. Unter die Sitze möchte er kriechen, sich verstecken vor der Polizei.
Vor der Polizei? In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken, irgendetwas läuft hier schief. Wir sind in Europa. Hier gibt es Menschenrechte. Dieser junge Mann ist ganz offensichtlich auf der Flucht! Aber doch nicht vor der Polizei. Eher vor Krieg, vor Armut, vor tödlichen Regimen. Kam bestimmt in einer dieser überfüllten Nussschalen übers Meer. Musste einmal mehr um sein Leben bangen. Wollte dahin, wo es ihm besser geht. Sein gutes Recht! Oder nicht? Und jetzt soll er sich – ja eigentlich am Ziel – bei uns, bei den Guten, verstecken? Wie viel Demütigung braucht es, um von dem Kuchen Glück ein Stück abzubekommen?
Die Konstruktion "Sicheres Herkunftsland" ist ja nichts anderes als die de-facto-Abschaffung der Einzelfallprüfung. Es wird eine pauschale Vorabunterstellung vorgenommen, der Aslyantrag sei unbegründet, weil man sich das im Bundeskabinett eben für das ganze Herkunftsland so überlegt hat
schreibt NutzerIn schoeneberger
Die Polizisten sind nicht zum Schutz der Flüchtlinge hier
Dann fallen mir die Gesichter der Polizisten ein. Ja, klar, verstehe. Sie werden von Abteil zu Abteil gehen, müssen nach blinden Passagieren suchen. Sie sind nicht zum Schutz der Flüchtlinge hier. Niemand soll auf eigene Faust, ohne Aufenthaltsstatus, das Land verlassen können. Sie stehen für das geltende Recht, das Flüchtlingen verbietet, auf Dauer ihr Erstaufnahmeland in der EU zu verlassen. Ein mulmiges Gefühl beschleicht mich.
Und dann tue ich – genau das Falsche: auf den Mann einreden, dass es keinen Sinn habe, sich vor der Polizei zu verstecken. Dass sie ihn finden und mitnehmen werden. Die Südtiroler pflichten mir bei. Der junge Mann zieht den Kopf ein, geht weiter, ins Abteil nebenan, in das, in dem schon so viele Flüchtlinge vor ihm verschwunden sind. Ich fühle mich elend. Ich habe nicht geholfen.
Keine fünf Minuten später kommen die Polizeibeamten. Sie sind zu acht. Sie sehen sich recht ähnlich, ein wenig wie geklont. Ihre Waffen baumeln demonstrativ an ihren Gürteln. Sie nehmen sich jedes Abteil vor. Sie gucken in die Gepäckfächer über unseren Köpfen, schieben unsere Koffer beiseite. Sie leuchten mit Taschenlampen unter unsere Sitze. Ich ziehe meine Beine an, weil ein Beamter neben mir auf die Knie geht, akribisch nach weiteren Gästen sucht. Aber: nix.
Sie ziehen weiter. In dem Abteil neben uns bleiben sie lange, sehr lange. Acht Flüchtlinge finden sie. Sie bugsieren sie auf den Gang, bewachen sie dort. Der junge Mann im roten Pulli ist nicht dabei.
Was der Mann im roten Pulli gemacht hat, kann also getrost als Asylmissbrauch zum Zweck der Selbsteinwanderung bezeichnen. Ich kann den Mann verstehen und würde es genauso machen. Kritik gebührt der Politik, die nicht konsequent gegensteuert.
schreibt NutzerIn rainmaker84
Bis in die hinterste Ecke sind sie gekrochen
Ich starre in mein Buch. Lese keine Zeile. Ich schaue zu den Flüchtlingen, die zu Boden. Die Polizisten gucken grimmig. Ich stehe auf, gehe raus auf den Flur. Lächle unbeholfen. Mein Blick wandert in das geräumte Abteil. Ein Polizist geht noch mal auf die Knie, leuchtet unter die Sitze. Und wird fündig. Bis in die hinterste Ecke müssen sie sich dort verkrochen haben, zwei junge Männer, einer davon mein roter Pulliträger. Sie verrenken sich, bis sie es endlich aus dieser fiesen engen Lücke zwischen Boden und Sitzen heraus schaffen.
In Kufstein in Österreich steigen sie alle, begleitet von den Beamten, aus. Dort ist das Auffanglager für Flüchtlinge. Wer es nicht im Zug bis Deutschland geschafft hat, landet dort. Dann geht es irgendwann zurück nach Italien. Dazwischen liegen oft Monate. Mein Blick wandert aus dem Fenster, die Polizisten haben die Männer umringt. Sie wirken streng, aber nicht unfreundlich. Der rote Pulli verliert sich in der Gruppe. Auch als die Flüchtlinge weggebracht werden, sehe ich den jungen Mann nicht mehr.
Der Zug fährt weiter. Ich setze mich. Fasse es nicht, was hier passiert ist. Hadere mit mir und der Welt. Beschimpfe mich: Wie konnte ich nur so versagen? Saftige Wiesen ziehen an mir vorbei. Hügelige sanfte Landschaft. Mein Buch liegt in der Ecke. Plötzlich: Ein Schatten huscht an mir vorbei. Ich erkenne den roten Pullover. Er ist es. Er schlüpft wieder in sein nun leeres Abteil. Ich springe auf, eile hinüber, sehe ihn noch, wie er sich wieder unter den Sitz zwängt. Es ist unglaublich. Wie hat er das gemacht? Wie ist er entkommen?
Seine Reise begann vor vielen Monaten in Senegal
Ich lehne mich hinunter. Und kaufe mich frei, egal. Er nimmt das Geld, die Müsliriegel. Er lächelt und erzählt: Seit drei Tagen probiert er, auf diesem Weg nach Deutschland zu gelangen. Er kommt aus dem Senegal, vor vielen Monaten begann seine Reise. Das Ziel: Deutschland, nur dorthin. Ganz klar, sagt er. In München angekommen, steigen wir gemeinsam aus und verabschieden uns. Ich frage noch, was er jetzt tun will. Zur Bahnhofsmission? Ich biete an, ihn zu begleiten. Nein, danke. Er strahlt. Er wisse schon, was jetzt kommt. Dann läuft der Mann los, direkt in die Arme der deutschen Polizei. Es scheint ihm nichts auszumachen. Er hat es geschafft.
Die Autorin, Stefanie Zenke, ist Redakteurin der „Stuttgarter Zeitung“, in der dieser Text zuerst erschien. Sie betreut an ihrem Wohnort Flüchtlinge. Sie hilft bei Behördengängen, Arztbesuchen oder dabei, mal einen Fernseher oder ein Fahrrad zu organisieren.
Stefanie Zenke