Graccident: Unbeabsichtigter Austritt Griechenlands aus dem Euro wird wahrscheinlicher
In Berlin und Brüssel hält man Athens Euro-Austritt immer mehr für denkbar. Die Regierung in Griechenland gibt den "Institutionen" offenbar nicht die Informationen, die sie brauchen. Die Stimmung ist aufgeladen und der Ton wird ruppig.
- Antje Sirleschtov
- Christopher Ziedler
Angesichts der Unkenntnis über die griechische Finanzlage und die geringe Athener Kooperationsbereitschaft stellt sich die europäische Politik immer stärker auf einen Austritt Griechenlands aus der Währungsunion ein. Allen voran äußerte sich erstmals auch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) dahingehend, dass er dieses Szenario für denkbar hält. „Da die Möglichkeit zu entscheiden, was passiert, nur bei Griechenland liegt, und wir nicht so genau wissen, was die Verantwortlichen in Griechenland tun, können wir es nicht ausschließen“, sagte der Finanzminister am Donnerstagabend am Rande einer Veranstaltung zusammen mit seinem österreichischen Amtskollegen Hans Jörg Schelling in Wien. Dieser sagte dort, die Unerfahrenheit der neuen Athener Linksregierung erhöhe „das Risiko eines möglichen Unfalls“.
Das englische Wort dafür lautet „accident“, mit Griechenland kombiniert sind daraus für den ungewollten Ausstiegsfall die Wortschöpfungen „Graccident“ oder „Grexident“ entstanden. Eigentlich aber wollen sowohl die EU-Geldgeber als auch die griechische Regierung – zumindest offiziell – ein Euro-Aus verhindern.
Dass es dennoch dazu kommen könnte, liegt an wegbrechenden Steuereinnahmen, die der Regierung „ein ernstes Liquiditätsproblem“ beschert haben, wie ein Athener Diplomat sagte. Zudem fließt täglich viel Geld von griechischen Konten ins Ausland, was das Bankensystem schwächt. Eine Zahlungsunfähigkeit, welche die Rückkehr zur Drachme nach sich ziehen könnte, kann freilich nur in Kenntnis der genauen Finanzlage verhindert werden.
"Es läuft richtig schlecht"
Das Ausmaß der Probleme bleibt den Euro-Partnern Griechenlands jedoch weiter unklar. Die Finanzexperten von EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds sind erst seit Donnerstag vor Ort, erhalten dort aber keinen direkten Zugang zu den Ministerien mehr, da die griechische Seite diese bisherige Praxis der Troika als demütigend empfindet. „Der Gesprächsauftakt in Athen war grausig“, berichtete ein mit den Vorgängen vertrauter Brüsseler Diplomat dem Tagesspiegel. „Es läuft richtig schlecht“, sagte er weiter, „die Graccident-Gefahr steigt täglich.“ Allerdings könne Premierminister Alexis Tsipras sie auch täglich beenden, indem er ernsthaft mit den Finanzinstitutionen zusammenarbeite: „Wenn er glaubwürdig kooperiert, kann die Europäische Zentralbank mit Notkrediten noch etwas machen – sonst nicht.“
Bei einem Besuch in Brüssel sagte Tsipras am Freitag, man „suche den besten Weg, um die Vereinbarung mit der Euro- Gruppe vom 20. Februar umzusetzen“. Zugleich betonte er jedoch, dass es „kein griechisches, sondern ein europäisches Problem“ gebe. Nach einem Gespräch mit Kommissionschef Jean-Claude Juncker sagte dessen Sprecher, beide seien „sich darin einig gewesen, dass die Lage ernst ist“. Juncker hatte vor der Begegnung gesagt, er sei „unzufrieden mit den jüngsten Entwicklungen“, wolle bei der Lösungsfindung „hilfreich“ sein und „schließe ein Scheitern völlig aus“. Der Luxemburger ergänzte aber vielsagend, dass „die Kommission hier nicht der entscheidende Spieler ist. Alle diesbezüglich zu treffenden Entscheidungen werden in der Euro-Gruppe getroffen“.
Schäuble soll Varoufakis beleidigt haben
Konkret bekannt wurde nach dem Treffen nur die Vereinbarung, dass auf griechischer Seite eine Taskforce eingerichtet wird, die mit einer Gruppe der EU-Kommission zusammenarbeiten soll, um mehr europäische Regionalförderungsgelder in Griechenland einsetzen zu können. Das entsprechende Kommissionsteam arbeitet seit September 2011 daran und wird vom Deutschen Horst Reichenbach geleitet.
Nach der heftigen verbalen Konfrontation zwischen Athen und Berlin und dem Streit um Reparationszahlungen in den vergangenen Tagen bemühte sich die deutsche Seite am Freitag erkennbar um Mäßigung. „Wir wollen Griechenland ein guter Freund und Partner sein“, sagte in Berlin der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Seibert. Zur Wochenmitte hatte der griechische Botschafter in Berlin beim Auswärtigen Amt offiziell Beschwerde über Finanzminister Wolfgang Schäuble geführt, weil der den griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis bei einer Pressekonferenz in Brüssel beleidigt haben soll. Berichtet hatten darüber griechische Medien. Schäuble hatte den Vorwurf am Donnerstag als „Unsinn“ zurückgewiesen. Der Anlass dafür war, wie sich herausstellte, eine Äußerung Schäubles, die von griechischen Journalisten falsch übersetzt worden war.
Verbale Attacke gegen Schäuble und die Bundesregierung
Am späten Freitagabend hat dann der rechtspopulistische griechische Verteidigungsminister Panos Kammenos die Bundesregierung massiv angegriffen und Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) seine Verwicklung in die CDU-Parteispendenaffäre vorgehalten. „Wir Griechen erinnern uns genau, dass Herr Schäuble sein Amt als Parteivorsitzender aufgeben musste, weil er in einen Fall von Bestechung verwickelt war“, sagte Kammenos der „Bild“-Zeitung (Samstag).
Schäuble war im Jahr 2000 zurücktreten, weil er 1994 eine Bar-Spende von damals 100.000 Mark (gut 51.000 Euro) für die CDU angenommen hatte, die nicht ordnungsgemäß verbucht worden war. Im Streit um das Hilfsprogramm für sein pleitebedrohtes Land und die entsprechenden Reformauflagen bezichtigte Kammenos Berlin auch, es habe versucht, die Regierungsbildung der führenden Linkspartei Syriza mit seiner rechtspopulistischen Anel-Partei zu torpedieren. „Die deutsche Regierung mischt sich in Dinge ein, die sie nichts angehen. Sie bricht das Übereinkommen, sich nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Länder einzumischen. Wie kann es sein, dass der deutsche Botschafter vor der Regierungsbildung Druck auf Syriza ausgeübt hat, nicht mit uns in eine Koalition zu gehen?“ Kammenos warf Schäuble vor, einen psychologischen Krieg gegen Griechenland zu führen. „Schäuble vergiftet damit die Beziehungen zwischen beiden Ländern. Es ist in Ordnung für mich, dass Herr Schäuble mich und Herrn Varoufakis nicht mag. Aber wir sind beide vom griechischen Volk gewählt worden, und inzwischen haben wir eine Zustimmung vom 80 Prozent, und wir sprechen für das griechische Volk.“ Dies sei Demokratie.
Kammenos droht Flüchtlinge einfach weiterzuschicken
Kammenos fügte hinzu: „Bei aller Kritik an der Korruption in Griechenland ist es ja auch nicht so, dass Deutschland oder Herr Schäuble immer fehlerfrei waren.“ Zudem gebe es zahlreiche Beispiele deutscher Firmen, die in Korruption verwickelt seien. „Aber darüber wird geschwiegen. Wenn wir nach Namen fragen oder Unterstützung brauchen, gibt es keine Hilfe“, kritisierte der Athener Minister. Ferner bekräftigte Kammenos die Forderung nach Entschädigung für die während des Zweiten Weltkrieg verübten Verbrechen und eine Zwangsanleihe, die Nazi-Deutschland Griechenland abgepresst hatte. „Alle anderen europäischen Länder wurden für die Verbrechen der Nazis entschädigt, nur Griechenland nicht“, erklärte er. Die Forderung nach einem „Schuldenschnitt, wie Deutschland ihn 1953 bei der Schuldenkonferenz in London auch bekommen hat“, wiederholte Kammenos ebenso wie die Drohung, ankommende Flüchtlinge weiterzuschicken, falls Griechenland aus dem Euro gedrängt werde. „Dann gelten keine Absprachen mehr, keine Abkommen, nichts. Wir sind dann nicht mehr verpflichtet, als Ankunftsland die Flüchtlinge auch aufzunehmen“, sagte der Minister. Kammenos forderte Kanzlerin Angela Merkel und andere europäische Regierungschefs auf, die Türkei zur Sicherung ihrer Grenzen anzuhalten. Ankara lasse Flüchtlinge ungehindert nach Griechenland. (mit dpa)