Griechenland will Reparationen eintreiben: Wie berechtigt sind Athens Forderungen?
Griechenlands Premierminister Alexis Tsipras ringt mit der Bundesregierung um bis zu 332 Milliarden Euro Reparationen für die Gräuel im Zweiten Weltkrieg. Nun droht den Deutschen sogar die Pfändung von Immobilien. Muss Berlin zahlen?
Möglicherweise könnten die Schüler der Deutschen Schule in Athen bald vor verschlossenen Türen stehen oder das Goethe-Institut könnte unter den Hammer kommen. Der griechische Justizminister Nikos Paraskevopoulos will deutsche Liegenschaften pfänden und zwangsversteigern lassen. Der Erlös soll Hinterbliebenen griechischer Nazi-Opfer zufließen.
Seit Jahrzehnten belastet der Streit um griechische Reparationsforderungen die Beziehungen beider Länder. Bisher waren die Regierungen in Berlin und Athen bemüht, die Kontroverse nicht eskalieren zu lassen. Der neue Ministerpräsident Alexis Tsipras aber will die Forderungen nun eintreiben. Eine Meinungsumfrage vom vergangenen Monat zeigt: Über 90 Prozent der Griechen unterstützen dieses Vorgehen.
Welche Forderungen stellt Griechenland?
Es geht um den Ausgleich der Weltkriegsschäden. Wenige Völker haben im Zweiten Weltkrieg so unter der deutschen Besatzung gelitten wie die Griechen. Während der Besatzungsjahre 1941 bis 1944 kamen 130 000 griechische Partisanen und Zivilisten ums Leben, darunter Frauen, Kinder und Greise. 70 000 griechische Juden wurden in die Vernichtungslager verschleppt. 300 000 Griechen verhungerten oder erfroren im Winter 1941/42, weil die deutschen Besatzer Brennstoffe und Nahrungsmittel beschlagnahmten. Beim Abzug der Deutschen waren 50 Prozent der Industrie- und Gewerbebetriebe, 75 Prozent des Straßen- und Eisenbahnnetzes sowie 87 Prozent der Handelsflotte zerstört.
Dazu kam eine Zwangsanleihe: 476 Millionen Reichsmark musste die griechische Zentralbank den Nazis zahlen und bekam das Geld nie zurück. Dieser Kredit hat nach Berechnungen des griechischen Rechnungshofs heute einen Wert von elf Milliarden Euro. Konservativere Berechnungen gehen von einem aktuellen Wert um die drei Milliarden aus.
Um wie viel Geld geht es insgesamt?
Ein Gutachten des staatlichen Rechnungshofes vom Dezember 2014 verzeichnet auf 186 Seiten detailliert die Ansprüche. Danach belaufen sich die Forderungen aus allen Kriegsschäden auf bis zu 332 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Griechenlands Staatsschulden betragen 320 Milliarden Euro – das Land wäre mit einem Schlag schuldenfrei.
Kann es wirklich zu Pfändungen kommen?
Justizminister Paraskevopoulos verlieh den Forderungen Nachdruck: Er sei bereit, die Pfändung deutscher Liegenschaften in Griechenland zu genehmigen. Dazu wäre es fast bereits im Jahr 2000 gekommen. Damals schickte der griechische Opferanwalt Ioannis Stamoulis eine Gerichtsvollzieherin zum Athener Goethe-Institut. Der Erlös der Pfändung sollte 296 Hinterbliebenen des SS-Massakers im griechischen Dorf Distomon zukommen. Ein Gericht in der griechischen Kreisstadt Livadia hatte den Hinterbliebenen 1997 eine Entschädigung von 56 Millionen Mark zugesprochen. Im Jahr 2000 bestätigte der Areopag, Griechenlands Oberster Gerichtshof, die Schadenersatzansprüche und erklärte die Pfändung deutscher Liegenschaften für rechtens – mit Zustimmung des Justizministers.
Mit einer einstweiligen Verfügung konnte die Deutsche Botschaft die Zwangsversteigerung verhindern. Ein Jahr später verweigerte der damalige Justizminister die Genehmigung für die Pfändung . So hielten es alle Justizminister seither. Paraskevopoulos aber sagte am Dienstag: „Ich bin bereit, die Genehmigung zu erteilen.“ Er mache die Entscheidung von nationalen Fragen abhängig. Nach Ansicht der Bundesregierung wäre eine Pfändung deutscher Güter in Griechenland ein Rechtsbruch – weil auch das Distomo-Urteil des griechischen Gerichts nicht rechtmäßig sei. Der Internationale Gerichtshof hatte 2012 in einem anderen Fall mit Italien geurteilt, dass italienische Gerichte keine zivilrechtlichen Ansprüche gegen Deutschland verhandeln dürften. Die Staatenimmunität gelte auch im Bezug auf NS-Verbrechen. Der Fall Distomo wurde 1995 auch in der Bundesrepublik verhandelt, die Klagen von Angehörigen der Getöteten wurden jedoch in allen Instanzen abgewiesen. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte die Entscheidungen 2006. Das Völkerrecht sehe keine Entschädigung von Individuen vor.
Wie berechtigt sind die Forderungen?
Hier muss zwischen Reparationen und der Zwangsanleihe unterschieden werden. Die allgemeinen Reparationsforderungen sind nach Ansicht der Bundesregierung und vieler Experten rechtlich abgeschlossen. Dabei gab es einige Tricks, Zahlungen zu vermeiden. Die Verpflichtung zu Reparationen unterzeichnete Deutschland 1946 in Paris, 1953 wurde allerdings auf der Londoner Schuldenkonferenz festgelegt, dass die Frage der Reparationen erst endgültig durch einen Friedensvertrag zwischen Deutschland und seinen Weltkriegsgegnern geregelt werde.
Beim Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990, in dem die Wiedervereinigung vorbereitet wurde, wurde der Begriff Friedensvertrag allerdings vermieden. Trotzdem enthält er aus Sicht der Bundesregierung „die endgültige Regelung der durch den Krieg entstandenen Rechtsfragen“, Griechenland hätte bis zu diesem Zeitpunkt Forderungen geltend machen müssen. Danach berief sich die deutsche Regierung auf Verjährung .
Die Historikerinnen Katerina Kralova und Nikola Karasova schlussfolgern in einem gemeinsamen Aufsatz: „Nach Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages wurde klar, dass es nicht mehr zur Unterzeichnung eines Friedensvertrags kommt (...) Damit fielen mögliche Reparationsforderungen Griechenlands unter den Tisch.“ Die Griechen waren wie andere Geschädigte nicht in die Verhandlungen zum Zwei-plus-Vier-Vertrag eingebunden worden, hatten die Ergebnisse mit ihrer Unterschrift zur „Charta von Paris“ im selben Jahr aber anerkannt.
Es gab bisher nur eine einzige wirkliche Wiedergutmachungszahlung Deutschlands an Griechenland. Berlin und Athen schlossen 1960 einen Vertrag über eine Zahlung von 115 Millionen D-Mark, die Opfern der Nazi-Verfolgung in Griechenland zugutekommen sollte. Nach deutscher Einschätzung hat Athen anerkannt, dass damit alle Ansprüche abgegolten seien, Athen verweist darauf, der Vertrag und die Zahlungen hätten zum Beispiel die zerstörte Infrastruktur nicht bedacht.
Obwohl die Griechen die Reparationsfrage nie offiziell abgeschlossen haben, drängten sie bisher nicht offensiv auf die Rückzahlung. Dabei spielten auch der Euro-Beitritt und gute wirtschaftliche Beziehungen eine Rolle. Nach Analysen des auf deutsch-griechische Beziehungen spezialisierten Historikers Hagen Fleischer arbeitete Deutschland gezielt mit „wirtschaftlichem und politischem Druck und einer bürokratischen Hinhaltetaktik“. In der Euro-Krise entstand in Griechenland das Gefühl, die Deutschen erwarteten Pflichterfüllung, ohne selbst Verbindlichkeiten nachzukommen. Syriza schrieb die Forderungen in ihr Wahlprogramm.
Was die Zwangsanleihe angeht, sind sich Experten über den rechtlichen Status nicht so einig. Die Bundesregierung besteht darauf, sie ebenfalls als allgemeine Reparationen zu behandeln und als unberechtigt abzulehnen. Griechenland verweist darauf, dass sie nie Teil der unterzeichneten Verträge war. Eine gerichtliche Klärung gab es bisher nicht.
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