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Geflüchtete aus der Ukraine sind am Grenzübergang Przemyśl in Polen in einer Bahnhofshalle untergebracht.
© imago images/NurPhoto/Beata Zawrzel
Update

Überfüllte Züge, Stau an der Grenze: UN erwarten bis zu vier Millionen ukrainische Flüchtlinge

Tausende verzweifelte Menschen aus der Ukraine sind bereits in die Nachbarländer geflüchtet. An der deutsch-polnischen Grenze ist es noch ruhig.

Die Vereinten Nationen stellen sich auf bis zu vier Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine ein, sollte sich die Situation weiter verschlechtern. Schon jetzt seien Tausende über die Grenzen in Nachbarländer wie Polen, Moldau, die Slowakei und auch Russland geströmt, sagte eine Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR am Freitag in Genf. Das UNHCR stehe zur Unterstützung bereit. Die Ukraine hat annähernd 42 Millionen Einwohner.

Das UN-Kinderhilfswerk Unicef verstärkt zudem seine Präsenz in den Nachbarländern Moldau, Rumänen und Polen sowie in Ungarn und Slowenien. Entlang von Fluchtrouten sollen Zufluchtsorte für Frauen und Kinder eingerichtet werden. In Rumänien stünden Konvois bereit, um Material für Zehntausende Menschen in die Ukraine zu bringen, so ein Experte.

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Das UN-Menschenrechtsbüro bekam nach eigenen Angaben Berichte über 25 getötete und 102 verletzte Zivilisten. Die überwiegende Mehrheit der Fälle sei aus Gebieten gemeldet worden, die von der ukrainischen Regierung kontrolliert werden, sagte eine Sprecherin. Sie geht davon aus, dass die wahren Zahlen deutlich höher liegen. In vielen Fällen sei es schwierig, Angaben zu prüfen. Es gebe einen „Informationskrieg“ mit Behauptungen über Angriffe, die sich beim näheren Hinsehen als falsch herausstellten.

Viele der Flüchtenden kamen am Donnerstag an der Grenze zu Polen an. Einige hatten Gepäck dabei, andere nicht. Unter ihnen waren Kinder.

Ein Mutter mit ihren Kindern am Bahnhof Przemyśl in Polen.
Ein Mutter mit ihren Kindern am Bahnhof Przemyśl in Polen.
© imago images/NurPhoto/Beata Zawrzel

Polen ist die Heimat der größten ukrainischen Gemeinde mit mehr als einer Million Mitgliedern und das am einfachsten von Kiew aus zu erreichende EU-Land. Polen bereitet nach Angaben der Regierung zudem einen Sanitätszug für den Transport verwundeter Ukrainer vor und hat eine Liste mit Kliniken zur Aufnahme von Verletzten erstellt. Zudem wurden Aufnahmestellen für Flüchtlinge in der Nähe von Grenzübergängen eingerichtet.

Anlaufstelle der Geflüchteten ist die polnische Stadt Przemyśl direkt hinter der ukrainischen Grenze. Die Züge dorthin sind völlig überfüllt, die Fahrtickets bereits seit Donnerstag ausgebucht. Nicht nur Flüchtende stehen dort auf den Bahngleisen, sonder auch Ukrainer und Ukrainerinnen, die in die andere Richtung reisen, um ihr Land gegen den russischen Angriff zu verteidigen, berichtet die "Zeit". "Wir müssen kämpfen. Was sollen wir denn sonst machen? Denen unser Land überlassen?", sagte ein Mann der "Zeit".

An der deutsch-polnischen Grenze stellten die Sicherheitsbehörden unterdessen noch kein erhöhtes Aufkommen an ukrainischen Flüchtlingen fest. Das erfuhr der Tagesspiegel am Freitagvormittag aus Sicherheitskreisen. Allerdings gibt es auch keine lückenlosen Kontrollen, da es sich um eine EU-Binnengrenze handelt - und Ukrainer zudem kein Visum brauchen.

Stattdessen ist die Bundespolizei mobil zu sogenannten "Binnengrenzfahndungen" bis 30 Kilometer hinter der Grenze unterwegs, um gegebenenfalls Einreisende aus der Ukraine zu kontrollieren und mit ihnen das Gespräch zu suchen. Schon am Donnerstag hatte eine Sprecherin der Bundespolizei erklärt, man stehe mit den beteiligten Behörden und Organisationen in einem sehr engen Austausch, vor allem mit dem polnischen Grenzschutz, der europäischen Grenzschutzagentur Frontex und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.

Nachbarländer der Ukraine richten Aufnahmestellen ein

In den Nachbarländer der Ukraine werden in den kommenden Tagen noch viele weitere geflüchteten Menschen aus der Ukraine erwartet, teilweise wollen die Staaten Aufnahmestellen direkt an der Grenze einrichten.

Der Regionalregierung der slowakischen Region Kosice erklärte, sie habe rund 2000 Betten für die Unterbringung von Flüchtlingen vorbereitet. Zudem seien rund 60 Fitnessstudios für die Aufnahme der Menschen gerüstet. An der slowakischen Grenze bildeten sich lange Staus. Verteidigungsminister Jaroslav Nad sagte, man werde bis zu 1500 Soldaten an die Grenze zur Ukraine schicken und zusätzliche Grenzübergänge einrichten.

Tschechien sagte ebenfalls Hilfe zu. Das Land grenzt nicht an die Ukraine. Im Land leben gleichwohl 260.000 Ukrainer. Die Tschechische Bahn bot Waggons mit 6000 Sitz- und Schlafplätzen an, um bei Bedarf bei der Evakuierung von Menschen zu helfen. Der tschechische Präsident Milos Zeman, der bislang eher mit der Regierung Moskau sympathisierte, nannte den russischen Präsidenten Wladimir Putin am Donnerstag einen "Verrückten".

Geflüchtete aus der Ukraine kommen in Ungarn an.
Geflüchtete aus der Ukraine kommen in Ungarn an.
© REUTERS/Bernadett Szabo

Einige Menschen kamen auch über die Grenzübergänge Tiszabecs und Beregsurany nach Ungarn. Manche waren mit Autos unterwegs, andere zu Fuß und mit Koffern.

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban, der eigentlich gute Beziehungen zu Putin pflegt, verurteilte das Vorgehen Moskaus. Er erklärte, Ungarn werde humanitäre Hilfe für die Ukraine vorbereiten und sei bereit, Flüchtlinge aufzunehmen. Zehntausende Ukrainer arbeiten in der Slowakei und in Ungarn, wo eine große ethnische Minderheit von etwa 140.000 Unkrainern unmittelbar hinter der Grenze lebt.

Menschen aus der Ukraine harren in der Bahnhofshall in Przemyśl aus.
Menschen aus der Ukraine harren in der Bahnhofshall in Przemyśl aus.
© imago images/NurPhoto

Die Republik Moldau kündigte den Ausnahmezustand im eigenen Land an und erklärte ihre Bereitschaft, zehntausende Bürger aus der benachbarten Ukraine aufzunehmen. "Wir werden den Menschen helfen, die unsere Hilfe und Unterstützung brauchen", sagte Präsidentin Maia Sandu.

Moldauischen Medien zufolge stauten sich Autos an der Grenze zwischen den beiden Ländern. Sandu schrieb am Donnerstag bei Twitter, es seien bereits mehr als 4000 Menschen aus der Ukraine in ihrem Land eingetroffen.

Rumänien zählte am ersten Tag der russischen Invasion fast 11.000 Flüchtlinge aus dem Nachbarland. Etwa 3660 davon seien am Donnerstag auf ihrem Weg nach Bulgarien und Ungarn durch Rumänien gekommen, sagt Innenminister Lucian Bode. Rund 7000 befänden sich im Land.

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Der bulgarische Präsident Rumen Radev sagte, sein Land bereite sich darauf vor, mehr als 4000 ethnische Bulgaren aus der Ukraine auf dem Landweg zu evakuieren. Zudem sei sein Land bereit, auch andere ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen. Rumänien will ebenfalls humanitäre Hilfe leisten.

Was kommt auf Deutschland zu?

Laut Schätzungen könnten aus der Ukraine mit ihren 44 Millionen Einwohnern bis zu eine Million Menschen in die EU fliehen. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR sind bereits rund 100.000 Menschen in der Ukraine auf der Flucht.

Nach Angaben von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen wurden mit allen östlichen EU-Ländern "Notfallpläne" erarbeitet, um Menschen aus der Ukraine sofort aufzunehmen. "Wir hoffen, dass es so wenige Flüchtlinge wie möglich sind, aber wir sind umfassend vorbereitet", sagte von der Leyen. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson hatte Polen finanzielle Unterstützung zugesichert sowie mögliche Hilfe durch die Grenzschutzagentur Frontex.

Geflüchtete aus der Ukraine an der Grenze zu Ungarn.
Geflüchtete aus der Ukraine an der Grenze zu Ungarn.
© REUTERS/Bernadett Szabo

Auch Deutschland ist bereit zur Aufnahme von Geflüchteten. Laut Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) stellt sich die Bundesregierung auf Fluchtbewegungen aus der Ukraine ein. Sie sicherte den unmittelbaren Nachbarländern der Ukraine, insbesondere Polen, Unterstützung zu. Bundesländer wie Berlin und Niedersachsen zeigten sich zur Aufnahme bereit.

Faeser sprach sich für einen EU-Beschluss aus, um eine unbürokratische Aufnahme von Kriegsflüchtlingen zu ermöglichen. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl rief dazu auf, auch Menschen aufzunehmen, die bereits vor anderen Konflikten in die Ukraine geflohen seien. "Darunter sind Menschen aus Syrien, Afghanistan, Tschetschenien und Somalia", erklärte die Organisation. Den an die Ukraine angrenzenden Ländern bietet Deutschland humanitäre Hilfe an. (Tsp, Reuters, AFP)

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