Anschläge auf Bürgermeister, Kämpfe im Osten: Ukraine - Land im Schatten der Gewalt
Auf Bürgermeister in der Ukraine werden Anschläge verübt, im Osten gehen die Kämpfe weiter – und das Land sucht einen Ausweg aus der Regierungskrise.
Am Samstag haben Kämpfe zwischen der ukrainischen Armee und den pro-russischen Separatisten in der Ost-Ukraine schwere Schäden verursacht. Die Stadtverwaltung von Donezk spricht „vom stärksten Grad der Zerstörung seit Beginn der Kämpfe“. Am Samstagvormittag wurde eine Gashochdruckleitung beschädigt und geriet in Brand. Der Flughafen wurde aus der Luft beschossen. Bewohner der umliegenden Wohngebiete berichten vom Dröhnen der Kampfflieger und massiven Einschüssen. In Luhansk sind bei Kämpfen in der Umgebung des Bahnhofes mindestens sechs Zivilisten getötet worden, 134 Personen wurden in Krankenhäuser eingeliefert. Die ukrainische Armee wird für den Vorfall verantwortlich gemacht.
Der selbsternannte Ministerpräsident der „Volksrepublik Donezk“, Alexander Borodai, sagte der Nachrichtenagentur Bloomberg, seine Leute würden „Kurs halten“, ein Aufgeben oder ein Rückzug kämen nicht in Frage Im Gegenteil, er drogte sogar mit einem „zweiten Stalingrad“. Die Armeen der „Volksrepubliken Donezk und Lugansk“ würden „siegen wie die sowjetischen Truppen im Großen Vaterländischen Krieg“. In einem russischen TV-Sender hatte Borodai erhob Borodai unterdessen Vorwürfe gegen Russland: Moskau unterstütze die Separatisten nicht ausreichend mit Geld und Waffen.
Neben der militärischen Krise schlittert die Ukraine immer tiefer in eine politische Krise. Auf das Anwesen des Bürgermeisters der westukrainischen Stadt Lwiw (Lemberg), Andrej Sadowy, ist in der Nacht zu Samstag ein Attentat verübt worden. Unbekannte warfen eine Granate auf das Gebäude. Der parteilose Politiker und seine Familie waren jedoch nicht zu Hause. Es entstand Sachschaden.
Sadowy, der zu den einflussreichsten Politikern der Westukraine zählt und mehrfach mit großer Mehrheit wiedergewählt wurde, strebt eine politische Karriere in Kiew an. Mit einer Parteineugründung hatte er im Mai an den Bürgermeisterwahlen in der ukrainischen Hauptstadt teilgenommen – und er will sich an den Parlamentswahlen im Herbst beteiligen. Sadowy hat in Lwiw vor allem kleine und mittelständische Unternehmen gefördert. „Ich weiß nichts von einer persönlichen Bedrohung, aber es gibt Unterschiede in der Politik, außerdem befindet sich unser Land im Krieg“, sagte Sadowy am Nachmittag der Nachrichtenagentur Unian.
In der zentralukrainischen Stadt Krementschug in der Provinz Poltawa wurde Samstagvormittag der Bürgermeister Oleg Babajew erschossen. Unbekannte sollen auf den Mercedes des Politikers gefeuert haben, drei Schüsse verletzten den 49-Jährigen tödlich. Babajew war viele Jahre Mitglied in der von Julia Timoschenko geführten Vaterlandspartei. Er hatte im Winter die Absetzung des damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch und die Verhaftung des damaligen Innenministers Vitali Zachartschenko gefordert. Der stellvertretende Ministerpräsident Wladimir Groismann sprach der Familie am Samstag sein Beileid aus. Die Behörden ermitteln wegen „terroristischer Anschläge“.
Gezerre um Rücktritt von Jazenjuk
Die beiden Attentate überdeckten am Samstag das Gezerre um den Rücktritt von Regierungschef Arsenij Jazenjuk. Präsident Petro Poroschenko sucht nach einem Weg, Jazenjuk zurückzuholen. Ein TV-Auftritt des bisherigen Ministerpräsidenten am Freitagabend zeigte noch einmal, warum der als besonders ehrgeizig geltende Jazenjuk das Handtuch geworfen hat. In einer 15-minütigen Stellungnahme zählte der 40-Jährige die Defizite der gescheiterten Regierungskoalition auf. „Wir könnten vier Milliarden Euro für das Gastransportsystem der Ukraine bekommen und mit internationalen Partnern eine Modernisierung unseres Energiesektors anschieben“, so der erste Punkt. Zudem hielt er den Parlamentsparteien vor, die Verabschiedung des Haushalts sowie wichtiger Sonderausgaben zur Finanzierung des Kampfes im Osten zu blockieren. Jazenjuk machte am Freitagabend einen sehr selbstbewussten Eindruck. Ob er sich bereiterklärt, das Amt des Regierungschefs weiter auszuüben, ist aber offensichtlich noch nicht entschieden.
Für kommenden Donnerstag ist eine Sondersitzung der Werchowna Rada vorgesehen. Das ukrainische Parlament soll in einer geschlossenen Sitzung über den Rücktritt Jazenjuks beraten. Poroschenko will der Tageszeitung „Segodna“ zufolge alles tun, damit Jazenjuk wieder auf seinen Posten als Regierungschef zurückkehrt. Die unbeliebten Entscheidungen soll noch die Übergangsregierung verabschieden. Der politische Ziehsohn Poroschenkos, Vize-Ministerpräsident Groismann, der bereits interimsweise die Regierungsgeschäfte übernahm, soll offenbar geschont werden. Würde er bis Ende Oktober die Regierung führen, liefe Poroschenko Gefahr, bei den Parlamentswahlen seine erste Niederlage als Präsident einzustecken.