Ukrainische Oppositionsführerin: Julia Timoschenko - von der "Gasprinzessin" zur Märtyrerin
Sie war die Erzfeindin des ukrainischen Präsidenten: Julia Timoschenko, Oppositionsführerin und ehemalige Ministerpräsidentin. Als Unternehmerin hatte sie lange vom System ihres Landes profitiert. Dann begann sie die Rollen zu wechseln.
Für dramatische Auftritte hatte sie schon immer etwas übrig. Kaum hat Julia Timoschenko am Samstagabend unter dem Jubel ihrer Anhänger das Gefängniskrankenhaus im ukrainischen Charkiw verlassen, erklärt sie, dass sie bei der Präsidentenwahl antreten will. Zum Ausruhen nimmt sich die 53-Jährige, die im Rollstuhl sitzt und der man die zweieinhalb Jahre Haft deutlich ansieht, keine Zeit. Sie reist sofort nach Kiew weiter. Zum Maidan, dem Zentrum der Ereignisse.
In den vergangenen Monaten, als die Bürger auf dem Maidan für europäische Werte, gegen ein korruptes Regime und vor allem gegen Staatschef Viktor Janukowitsch protestierten, schien die Figur der früheren Regierungschefin und späteren Oppositionsführerin zu verblassen, als sei sie fast schon Geschichte. Und dann das: Kurz nach der Unterzeichnung eines Abkommens, das die Gewalt beenden und den Weg zu einem möglichen Machtwechsel ebnen soll, setzt Timoschenkos Partei im Parlament sofort ein Gesetz durch, das die Strafbarkeit der ihr zur Last gelegten Taten aufhebt. Nur einen Tag später verfügen die Abgeordneten per Erlass die umgehende Freilassung der Oppositionsführerin. Deren Tochter Jewgenija, die die Abstimmung im Parlament verfolgt, bricht in Tränen aus und schlägt die Hände vor das Gesicht.
Jahrelang hat Jewgenija Timoschenko für die Freilassung ihrer Mutter gekämpft. Seit August 2011 war die frühere Regierungschefin in Haft. Ihr Schicksal ist auf besondere Weise verflochten mit dem des Noch-Staatschefs Viktor Janukowitsch: Fast ein Jahrzehnt ist es her, dass die beiden zum ersten Mal zu erbitterten Widersachern wurden. Damals, im November 2004, versammelten sich schon einmal Zehntausende auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew, dem Maidan. Sie wollten gegen Unregelmäßigkeiten bei der Präsidentenwahl protestieren. Zum „Sieger“ dieser Wahlen war Viktor Janukowitsch erklärt worden. Überraschend wurde Julia Timoschenko in diesen Tagen zum Symbol des Widerstands auf dem Maidan.
Dabei deutet in ihren frühen Jahren nichts darauf hin, dass sie sich einmal gegen das System stellen würde – im Gegenteil: Sie hatte sogar ausgezeichnet davon profitiert. Julia Timoschenko wird 1960 in Dnipropretrowsk geboren, einer grauen Industriestadt. Sie wächst ohne Vater auf, der die Familie früh verlassen hat. Heirat mit 18, Mutter mit 19 Jahren, gleichzeitig ein Studium der Wirtschaft und des Ingenieurwesens und später der erste Job in einer Fabrik – dies ist alles andere als ungewöhnlich für eine junge Frau in der Sowjetunion.
Später nutzen sie und ihr Mann Oleksandr die Jahre der Perestrojka und machen sich mit einem Videoverleih selbstständig. Doch Julia Timoschenko hat größere Pläne, gründet mit ihrem Mann und ihrem Schwiegervater einen Energiekonzern, der zunächst Fabriken mit Treibstoff versorgt. In den Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verdienen diese Jung-Unternehmer in der Ukraine – übrigens ähnlich wie Michail Chodorkowski und andere Oligarchen in Russland – plötzlich das ganz große Geld.
Timoschenkos große Stunde kommt nach den Präsidentenwahlen im Herbst 2004
Timoschenkos Firma ist bald für einen großen Teil des Gasimports aus Russland verantwortlich. Mit Hilfe von Verbündeten in der Politik baut sie ihren Einfluss immer weiter aus – gegen hohe Bestechungsgelder, lautet der Vorwurf später. Deswegen wird sie im Jahr 2001 sogar festgenommen; doch die Ermittlungen werden eingestellt. In der Ostukraine ist die Oligarchin bald als „Gasprinzessin“ bekannt. Niemand weiß genau, wie groß ihr Vermögen aus dieser Zeit heute noch ist.
Die machtbewusste Unternehmerin entscheidet sich, in die Politik zu gehen. 1996 wird sie ins Parlament gewählt. Hatte sie in frühen Jahren von ihren Kontakten ins Lager des damaligen autoritär regierenden Präsidenten Leonid Kutschma profitiert, steht sie nun in Opposition zu ihm. Bald lernt sie einen anderen Oppositionellen kennen, Viktor Juschtschenko. Als der 1999 Regierungschef wird, macht er Timoschenko zu seiner Stellvertreterin und gibt ihr – ausgerechnet – die Zuständigkeit für den Energiesektor. In diesem Amt vollzieht sie eine der vielen überraschenden Wendungen in ihrem Leben: Sie leitet tiefgreifende Reformen ein, die nun dem Staat – nicht den Oligarchen – mehr Geld einbringen. Als Antwort wirft Kutschma sie aus der Regierung, es folgen die Ermittlungen wegen Bestechung. Timoschenko antwortet auf diese Kampfansage mit der Gründung einer eigenen Partei.
Ihre große Stunde kommt nach den Präsidentenwahlen im Herbst 2004. Der von ihr unterstützte Juschtschenko verliert gegen den Kandidaten des alten Systems, Viktor Janukowitsch. Es gibt Berichte über Wahlbetrug im ganz großen Stil. Timoschenko ruft die Bürger von Kiew auf, sich auf dem Maidan zu versammeln. „Bringt warme Kleidung, Brot und Speck mit“, sagt sie. Dies ist der Beginn von tagelangen Massenprotesten, aus denen die Bürger schließlich als Sieger hervorgehen. Das Oberste Gericht erklärt die Wahlen für ungültig, die Orangene Revolution siegt friedlich. Juschtschenko gewinnt wenig später die Neuwahlen, Timoschenko wird seine Regierungschefin. Für Timoschenko selbst wird der Maidan zur großen Bühne für ihre Selbstinszenierung: Neben dem eher unbeholfen wirkenden Juschtschenko strahlt die Frau mit dem markanten blonden Haarkranz umso heller. Sie spricht dort nicht Russisch, die Sprache ihrer Heimat im Osten des Landes, sondern Ukrainisch, das sie erst lernen musste. Die „Gasprinzessin“ stellt sich als eine Frau aus dem Volk dar, als „Julia“ wird sie seitdem von ihren Anhängern gefeiert. Und Viktor Janukowitsch? Er geht leer aus, erlebt seine erste große politische Niederlage durch einen Volksaufstand. Ein Erlebnis, das er nicht vergessen wird.
Doch die beiden Helden der Orangenen Revolution tun in den kommenden Monaten alles, um das Vertrauen der Bürger zu verspielen. Zwischen Juschtschenko und Timoschenko entbrennt ein eitler Machtkampf, der mit ihrem Rauswurf als Regierungschefin endet. Juschtschenko schreckt nicht einmal davor zurück, den alten Gegner Janukowitsch zwischenzeitlich zum Regierungschef zu machen. Als im Jahr 2010 ein neuer Präsident gewählt wird, sind viele von denen, die für die Orangene Revolution auf die Straße gegangen sind, von ihren damaligen Anführern tief enttäuscht. Timoschenko verliert die Wahlen – ausgerechnet gegen ihren Widersacher Janukowitsch. Der ist mit einigen Jahren Verspätung nun doch da angelangt, wo er von Anfang an hinwollte.
Erst „Gasprinzessin“, Heldin der Revolution, Regierungschefin, Oppositionsführerin – und nun Märtyrerin
Doch die Niederlage seiner Konkurrentin reicht Janukowitsch nicht. Timoschenko hat immer noch großen Rückhalt in der Bevölkerung, er fürchtet, dass sie ihm bei kommenden Wahlen gefährlich werden könnte. Es kommt zum Prozess gegen die Oppositionsführerin. Der Vorwurf: In ihrer Zeit als Regierungschefin habe sie einen für die Ukraine höchst unvorteilhaften Gasdeal mit Russland abgeschlossen. Das Gericht verurteilt sie zu sieben Jahren Haft wegen Amtsmissbrauchs. Das Verfahren wird international als politisch motiviert kritisiert, auch andere Ex-Regierungsmitglieder landen hinter Gittern. Timoschenko selbst kommt im August 2011, noch während des Verfahrens, in Untersuchungshaft – angeblich, weil sie nicht genug Respekt für das Gericht gezeigt habe und zu spät zur Verhandlung gekommen sei.
Damit beginnt die nächste Verwandlung der Julia Timoschenko: Erst „Gasprinzessin“, Heldin der Revolution, Regierungschefin, Oppositionsführerin – und nun Märtyrerin. Bei ihrem Kampf um die Freiheit treffen Timoschenko, ihre Partei und ihre PR-Leute nicht immer den richtigen Ton, manchmal wirken ihre Äußerungen ein wenig zu schrill, zu pathetisch. So muss sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in dem Verfahren um die Rechtmäßigkeit ihrer Untersuchungshaft auch mit Details befassen wie der Frage, wie häufig in der Haftanstalt die Bettwäsche gewechselt wurde. Das Gericht kommt zu dem Schluss, dass die Untersuchungshaft willkürlich und rechtswidrig war, dass jedoch die Haftbedingungen nicht zu beanstanden sind.
Timoschenkos Hang zur Dramatik darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Oppositionsführerin tatsächlich aus politischen Gründen in Haft ist. Im Straflager wird sie krank, der Bandscheibenvorfall entwickelt sich schnell zu einem chronischen Leiden. Da sie den Gefängnisärzten nicht traut – ein anderer Ex-Politiker ist in der Haft an Hepatitis erkrankt –, will sie sich von ihnen auch nicht behandeln lassen.
Zu diesem Zeitpunkt hat die Europäische Union den Fall Timoschenko bereits zum Testfall für eine weitere Annäherung der Ukraine erklärt. Die Botschaft lautet: Wenn Janukowitsch ein geplantes Abkommen will, muss er garantieren, dass das Land ein Rechtsstaat ist, und Timoschenko freilassen. Doch genau das will Janukowitsch unbedingt vermeiden.
Ein scheinbar auswegloses Dilemma, aus dem nicht Politiker, sondern Ärzte heraushelfen sollen. Mediziner der Berliner Charité untersuchen Timoschenko. Sie bestätigen auch, dass ihr Leiden nicht gespielt ist, wie von den ukrainischen Behörden behauptet, sondern wirklich mit starken Schmerzen verbunden ist. Die Bundesregierung sieht eine Behandlung in der Charité als möglichen Ausweg. Janukowitsch könnte die Freilassung als humanitären Schritt deklarieren, seine Widersacherin wäre außer Landes. In monatelangen Verhandlungen versuchen Diplomaten, Janukowitsch diese Lösung schmackhaft zu machen. Doch der spielt wieder einmal auf Zeit, verlangt zunächst, dass die Ärzte Timoschenko in Charkiw behandeln. Als die geplante Unterzeichnung des Abkommens mit der EU bevorsteht, gibt es neue Hoffnung auf eine Freilassung Timoschenkos und eine Ausreise nach Berlin. Abgeordnete des Parlaments bereiten sogar ein Gesetz vor, dass die Behandlung von Gefangenen im Ausland ermöglichen würde.
Doch Janukowitsch will seine Gegnerin offenbar auf keinen Fall in Freiheit sehen. Erst als seine Zeit an der Macht am Samstag zu Ende geht, öffnen sich für Timoschenko die Gefängnistüren.