Erdogan-Besuch: Türkische Opposition will Rückkehr zu Demokratie
Nur eine Rückbesinnung der Türkei auf demokratische Grundsätze könne die deutsch-türkischen Beziehungen normalisieren, sagen türkische Oppositionelle.
Kurz vor dem Staatsbesuch von Recep Tayyip Erdogan in Deutschland wird in der Türkei der Ruf nach einer Rückkehr zu Demokratie und rechtsstaatlichen Verhältnissen lauter. Das Land brauche eine unabhängige Justiz, sagte Bülent Eczacibasi, einer der prominentesten Geschäftsmänner der Türkei, der Zeitung „Hürriyet“. Bisher zeigt die Regierung jedoch keinerlei Neigung zu einem Kurswechsel. Deshalb müsse die Bundesregierung dem türkischen Staatschef klarmachen, dass es ohne Rückbesinnung auf demokratische Grundsätze keine Normalisierung der Beziehungen geben werde, forderte der Parlamentsvizepräsident und Oppositionspolitiker Mithat Sancar im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Sancar hat aber nur wenig Hoffnung, dass Berlin den nötigen Druck auf Erdogan machen wird.
Die Menschenrechts-Bilanz der Türkei der vergangenen Jahre fällt ernüchternd aus. Seit dem Putschversuch vor zwei Jahren wurden laut der UNO rund 150000 Menschen festgenommen, weitere 150000 aus dem Staatsdienst entlassen. Viele Erdogan-Gegner sind ins westliche Ausland geflohen, wo die Zahl türkischer Asylbewerber ansteigt.
Mehr als hundert Journalisten sitzen im Gefängnis, mehrere hundert Medien wurden in den vergangenen Jahren verboten. Demonstrationen von Regierungsgegnern werden unterdrückt, Oppositionspolitiker eingesperrt. Die Gerichte sind auf Regierungslinie gebracht worden: Seit dem Putschversuch wurden 18000 Richter und Staatsanwälte neu ernannt. Auch nach der Aufhebung des Ausnahmezustandes im Juli lässt der Druck auf Andersdenkende nicht nach.
Die türkische Krise lässt Erdogan Nähe suchen
Der harte Kurs war einer der Gründe für die Eiszeit in den Beziehungen zwischen der Türkei und der EU seit 2016. Doch nun sucht Erdogan wieder die Nähe zu Europa, nicht zuletzt wegen der schweren Finanzkrise am Bosporus: Erdogans Regierung hofft auf wirtschaftlichen Beistand aus Europa. Er wolle ein „warmes“ Verhältnis zu Deutschland, „so wie es einmal war“, sagte der Präsident der Nachrichtenagentur Reuters.
Ganz so einfach dürfe es die Bundesregierung der Türkei aber nicht machen, sagte Sancar. Er unterstütze eine zwar Annäherung zwischen der Türkei und Deutschland, betonte der Politiker der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP. Aber: „Ohne Demokratie kann die Türkei keine Stabilität erreichen.“ Das müsse die Botschaft der Bundesregierung an Erdogan sein. „Es darf und kann nicht nur um die beiderseitigen wirtschaftlichen Interessen gehen.“ Das betrifft laut Sancar auch die von Berlin immer wieder kritisierten Festnahmen von Bundesbürgern in der Türkei. Selbst wenn plötzlich alle Deutschen auf freien Fuß kämen, bedeute das nicht, dass die türkische Justiz über Nacht unabhängig geworden sei: „Es herrscht Willkür der Regierung, nicht Rechtstaatlichkeit.“
Nicht nur Sancar sieht das so. Sogar Kommentatoren in regierungsnahen Medien betonen inzwischen, dass die Türkei das Vertrauen internationaler Investoren nur mit substanziellen Reformen, etwa zur Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz, zurückgewinnen könne.
Die Alarmzeichen in der Wirtschaft nehmen zu. Mehrere bekannte Einzelhandelsfirmen haben Gläubigerschutz beantragt, Bauunternehmen haben mit Entlassungen begonnen. Viele Firmen fragen sich, wie sie ihre in den vergangenen Jahren aufgenommenen Dollar-Kredite zurückzahlen sollen. Experten schätzen die Gesamtsumme türkischer Unternehmensschulden auf 220 Milliarden Dollar.
Die Schuld an der Misere sieht Ankara bei Anderen. Erdogan gab kürzlich die Parole aus, die Türkei erlebe keine Wirtschaftskrise, sondern die Folgen hinterhältiger Manipulationen dunkler Kräfte.
Bei der Wiederannäherung spielt der Syrien-Krieg eine große Rolle
Eine Familientragödie in der Nähe von Istanbul und die Reaktion der Behörden darauf wirft ein weiteres Schlaglicht auf die aktuelle Stimmung in der Türkei. In dem Dorf Hereke musste der verschuldete Familienvater Ismail Devrim erleben, wie sein Sohn aus der Schule nach Hause geschickt wurde, weil sich die Familie die Hose für die vorgeschriebene Schuluniform nicht leisten konnte. Ihr Mann sei verzweifelt gewesen und früh zu Bett gegangen, sagte Devrims Frau Hafize später. Am nächsten Morgen fand sie seine Leiche – er hatte sich Badezimmer erhängt.
Ein Lokalreporter, der die Familie besuchte und die Geschichte publik machte, wurde von der Polizei vorübergehend festgenommen. Das zuständige Gouverneursamt erklärte, die Meldungen über das Motiv des Selbstmords seien falsch und hätten allein das Ziel, in der Öffentlichkeit „einen schlechten Eindruck“ über die Lage im Land zu verbreiten.
Dass Erdogan auf Drängen der Bundesregierung seine Politik ändern wird, ist unwahrscheinlich. Verbesserungen in Einzelfällen wie die Entlassung prominenter politischer Häftlinge seien zwar möglich, meint Kristian Brakel, der Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul. Strukturelle Reformen seien aber nicht zu erwarten: Es gehe nur um Zugeständnisse, die möglich seien, „ohne den Machtanspruch des Präsidenten in Frage zu stellen“, sagte Brakel dem Tagesspiegel.
Ob Erdogan in Berlin auf solche Themen angesprochen wird, ist ungewiss. Bei der Wiederannäherung zwischen der Türkei und Deutschland spielen der Syrien-Konflikt und die damit verbundene Flüchtlingsproblematik eine große Rolle. Berlin verlässt sich auf das Flüchtlingsabkommen mit Ankara, um einen neuen Massenansturm von Hilfesuchenden wie im Jahr 2015 zu vermeiden. Die Bundesregierung unterstützt deshalb unter anderem die türkischen Bemühungen, eine Großoffensive auf die syrische Rebellen-Hochburg Idlib zu verhindern.
Der Oppositionspolitiker Sancar sieht die Gefahr, dass Deutsche und andere Europäer aus lauter Furcht vor einer neuen Flüchtlingswelle der Regierung in Ankara völlig freie Hand in Syrien geben. Erdogans Syrien-Politik sei einer der Hauptgründe, warum der Krieg im Nachbarland immer noch anhalte, sagte der stellvertretende Parlamentspräsident.
Für Zurückhaltung in Syrien sieht Erdogan derzeit jedenfalls keinen Anlass. Wenige Tage vor seiner Visite in Berlin kündigte er eine neue Militärintervention seines Landes in Teilen von Nord-Syrien an.