Wahlkampf gegen einen Kranken?: Trumps Corona-Erkrankung durchkreuzt Bidens Strategie
Trump, der Schwache und Hilfsbedürftige: Dieses neue Bild vom Präsidenten stellt vieles auf den Kopf und verändert die Dynamik des Wahlkampfes. Ein Kommentar.
Wie wirkt sich die Corona-Erkrankung des amerikanischen Präsidenten auf die Wahl am 3. November aus? Noch ist nicht klar, wie schwer Donald Trump erkrankt ist, wie die Infektion verläuft und wie lange sie dauert. Außerdem hängt vieles von der Reaktion der Opposition und den Berichten in den Medien ab. Häme und Hybris wären jedenfalls verkehrt. Eine Krankheit ist immer ein Schicksalsschlag, der niemandem vergönnt ist.
Grundsätzlich gilt: Nicht Programme entscheiden Wahlen, sondern Gefühle. Auch Mitleid und das Verlangen nach Fairness sind solche Gefühle. Im Englischen gibt es das Phänomen der „sympathy vote“, gelegentlich „pity vote“ genannt.
Gemeint ist der Reflex, einer Person oder Partei die Stimme zu geben, wenn er oder sie in eine schwere Krise geraten ist oder übertrieben hart angegangen wird. Als der Kandidat der Sozialistischen Partei Brasiliens, Eduardo Campos, im August 2014 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, stiegen die Werte seiner Partei von acht auf 20 Prozent. Ein klarer Fall von Mitleidseffekt.
Im Jahr 2017 musste die Kopenhagener Bürgermeisterin für Beschäftigung und Integration, Anna Mee Allerslev, nach heftiger Kritik zurücktreten, weil sie den Saal im Rathaus für ihren eigenen Hochzeits-Empfang benutzt hatte, ohne Miete zu bezahlen. Dennoch blieb ihr Name bis zur Kommunalwahl auf dem Stimmzettel. Mit 1123 Stimmen wurde sie in die Bürgerschaft gewählt, weil viele ihrer Anhänger die Vorwürfe gegen sie als Schmutzkampagne empfunden hatten.
Trump appellierte an das Gerechtigkeitsgefühl
„Kann man Parteien aus Mitleid wählen?“, fragte im vergangenen Bundestagswahlkampf der Satiriker Jan Böhmermann unter dem Hashtag #pityvote. Da ging es um den Kanzlerkandidaten der SPD, Martin Schulz.
Was folgt daraus im Fall Trump? Die Corona-Erkrankung macht ihn zu einem Opfer, ganz gleich, wie er selbst auf die Gefahren der Pandemie reagiert hat. Bislang war er gern in die Rolle der verfolgten Unschuld geschlüpft. Alle waren gegen ihn: Hollywood, die Wall Street, die Medien, Silicon Valley, die Geheimdienste, der „tiefe Staat“.
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Den Vorwurf, von allen ungerecht behandelt zu werden, verwandelte er in Zustimmung zu seiner Kandidatur. Er appellierte an das Gerechtigkeitsgefühl seiner Wähler. Mit ihrer Stimme sollten sie die angebliche Waffenungleichheit zwischen ihm und dem „tiefen Staat“ nivellieren.
Nun kommt zur angeblich unfairen Behandlung der schwere Schicksalsschlag, Corona. Wird sich diese Kombination in einen Mitleidseffekt übersetzen? Wahlforscher nennen einen solchen Effekt zwar real, er sei aber meist nur von kurzer Dauer. Wie stark er ausfällt, hänge entscheidend von der öffentlichen Debatte ab.
Das heißt: Falls die Opposition nun Salz in die Wunden streut, es an Empathie mangeln und humanitäre Gesten vermissen lässt, könnte der Mitleidseffekt sich verstärken und verlängern. Wer Trump verspottet, verhilft ihm womöglich zur Wiederwahl.
Wer den Republikanern Gründe dafür liefert gibt, den Demokraten Gemeinheit, Niedertracht und politische Instrumentalisierung einer Krankheit vorzuwerfen, bringt Bürger gegen sich auf. Dann wird aus dem inneren Protest gegen „foul play“ ganz schnell eine Stimmabgabe für Trump.
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Joe Biden, der Herausforderer, wollte den Wahlkampf zu einem Duell zweier Charaktere machen. Die Bulldogge gegen den Anständigen, den Streiter gegen den Diplomaten, den Respektlosen gegen den Respektvollen. Trumps Corona-Erkrankung durchkreuzt diese Strategie. Zumindest kurzfristig sollten dem verhassten Amtsinhaber im Weißen Haus nun gute Genesungswünsche zugerufen werden. Da wird so manch einer über seinen eigenen Schatten springen müssen.
Trump, der Erkrankte, der Leidende, der Schwache und Hilfsbedürftige: Dieses neue Bild vom Präsidenten ist eine Umkehrung seines bisherigen Images. Es verändert die Dynamik des Wahlkampfes substanziell. Je schneller sich Biden und die Demokraten darauf einstellen, desto besser für sie. Klugheit und Fairness sind jetzt gefragt. Mehr denn je.