Kinderarmut in Deutschland: Trotz Wirtschaftsboom brauchen immer mehr Kinder Hartz IV
Die Zahl der Unter-18-Jährigen, die auf Hartz IV angewiesen sind, nimmt zu - obwohl die Arbeitslosigkeit niedrig ist. Woran das liegt, kann auch eine neue Studie nicht klären.
Von zwei Meldungen, die am Montag an die deutsche Öffentlichkeit drangen, provozierte eine ein Statement der Familienministerin und empörte Reaktionen von Interessenverbänden und Opposition, die andere blieb fast unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Der Anteil und die Zahl von Kindern und Jugendlichen, die in Hartz-IV-Familien aufwachsen, sei in den vergangenen Jahren gewachsen, erklärte die Bertelsmann-Stiftung. Am gleichen Tag gab das Bundeswirtschaftsministerium bekannt, der Aufschwung der deutschen Wirtschaft bleibe "solide". Der Arbeitsmarkt sei "weiterhin in guter Verfassung."
Liest man beide Meldungen zusammen, ergibt sich ein erklärungsbedürftiger Befund: Trotz florierender Wirtschaft, trotz zurückgehender Arbeitslosigkeit und immer neuer Rekordzahlen von sozialpflichtig Beschäftigten in den vergangenen Jahren steigt die Zahl der Kinder in Deutschland, die in Armut leben. Laut Bertelsmann-Stiftung wuchsen im Jahr 2015 fast zwei Millionen Mädchen und Jungen (14,7 Prozent) in Familien auf, die von staatlicher Grundsicherung leben – 52.000 mehr als 2014. Ihr Anteil stieg um 0,4 Prozent gegenüber dem Jahr 2011, als 14,3 Prozent gezählt wurden.
Gründe, warum der Wirtschaftsboom den Kindern und Jugendlichen nicht aus der Armut hilft, liefern die Bertelsmann-Experten in ihrer Aufsehen erregenden Studie allerdings nicht. "Wir können aufgrund fehlender Daten nicht erklären, warum trotz Wirtschaftswachstums und steigender Beschäftigungszahlen mehr Kinder von Hartz IV abhängig sind", sagte Sarah Menne, Projektleiterin Familienpolitik der Stiftung, auf Nachfrage.
Vieles spreche dafür, dass Kinder für Alleinerziehende und Familien mit drei oder mehr Kinder "ein Risikofaktor auf dem Arbeitsmarkt" seien. Natürlich könnten auch minderjährige Flüchtlinge, die in Deutschland anerkannt worden sind, in einigen Kommunen bei der Zählung eine Rolle spielen. "Um diese Fragen zu klären, bräuchte es dringend weiterer, vertiefter Forschung", meinte die Familienforscherin.
Die lebenslangen Folgen von Kinderarmut für die Betroffenen beschreibt die Stiftung in einer sogenannten Metastudie, die bereits vorliegende Forschungsergebnisse zusammenführt und auswertet. Demnach sind Kinder und Jugendliche oft über längere Zeit von Armut betroffen. Mehr als 57 Prozent der Kinder zwischen sieben und 15 waren mehr als drei Jahre lang auf Sozialleistungen angewiesen. "Je länger die Kinder in Armut leben, desto gravierender sind die Folgen", sagte Anette Stein, Familienexpertin der Stiftung. Arme Kinder würden sozial isolierter aufwachsen, gesundheitliche Nachteile erleiden und häufiger Probleme auf ihrem Bildungsweg haben als Altersgenossen, deren Eltern weniger von finanziellen Sorgen geplagt werden.
Die Familienministerin versichert: Ich nehme das Problem ernst
Als Gegenmittel empfiehlt die Stiftung eine Reform der Grundsicherung für Kinder. Die Unterstützung müsse komplett neu gedacht werden und sich am tatsächlichen Bedarf von Kindern und Jugendlichen orientieren, sagte Stiftungsvorstand Jörg Dräger.
Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) versicherte anlässlich der Studie, sie nehme Kinderarmut sehr ernst. Zugleich wies sie darauf hin, dass die Bundesregierung den Kinderzuschlag für geringverdienende Eltern zum Jahresanfang um 20 Euro auf 160 Euro pro Monat erhöht habe, was sich im Untersuchungszeitraum der Studie nicht ausgewirkt habe. "Damit werden rund 50.000 Kinder wieder unabhängig von Leistungen der Grundsicherung", meinte sie. Mit dem Mindestlohn, dem Kitaausbau und dem ElterngeldPlus sei die Regierung bereits wichtige Schritte zur Bekämpfung von Armut gegangen. Weil Kinder getrennter Eltern, die keinen Unterhalt erhalten, von Armut besonders betroffen sind, wolle sie zudem den Unterhaltsvorschuss ausbauen.
Die Grünen sprachen von einer beschämenden Studie. "Frau Schwesig sollte aufhören, Ankündigungsministerin zu spielen, es ist Zeit zum Handeln", erklärten sie. Auch mehrere Sozialverbände forderten ein Umsteuern der Politik.
Regional ist das Armutsrisiko von Kindern laut der Studie sehr unterschiedlich. Ins Ostdeutschland sank die Quote von 2011 bis 2015 um 2,4 auf 21,6 Prozent, während sich im Westen der Anteil von 12,4 auf 13,2 Prozent erhöhte. Besonders hoch waren die Quoten in Städten wie Bremerhaven (40,5), Gelsenkirchen (38,5) und Offenbach (32,2). In Berlin ist die Entwicklung vorsichtig positiv: Demnach sank die Quote in diesem Zeitraum von 33,7 auf 32,2 Prozent.