Gesellschaft: Toleranz ist nichts für Feiglinge
Schluss mit der dauernden Nachsicht - überall wird Haltung angemahnt. Aber das wäre nun wirklich zu einfach. Ein Essay.
Der Bundespräsident hat zwar dazu aufgerufen, extra das Gespräch mit Menschen zu suchen, die ganz anders auf die Welt schauen als man selbst, aber nach den Feiertagen dürften manche von dieser Art Kommunikation die Nase reichlich voll haben. Streit über Politik gehört zum klassischen Stimmungskillerrepertoire – und dann sitzt man da: entkräftet, entnervt, entsetzt und beschließt, vorläufig nie wieder Gespräche mit Leuten zu führen, die so gänzlich anderer Meinung sind. Klare Ansage, klare Haltung, Schluss mit dem toleranten Gesprächsansatz.
Das dürfte ein Mehrheitsphänomen sein: „Die Toleranz für unterschiedliche Meinungen“ habe „eher“ oder „eindeutig abgenommen“, finden knapp 83 Prozent der Befragten in einer vom Tagesspiegel in Auftrag gegebenen Erhebung. Hat Toleranz im Wettstreit mit Haltung noch eine Chance?
Ihr Problem dürfte sein, dass sie vielfach als Gegenteil von „Haltung zeigen“ verstanden wird, als passives Laissez-faire. Die Haltung hingegen ist kämpferisch und begehrt auf. Doch Toleranz und eine klare Haltung müssen sich nicht ausschließen und sollten das auch nicht. Toleranz ist nicht das Gegenteil von Haltung, sondern die Voraussetzung dafür. Dazu müssen aber die Begriffe richtig verstanden werden.
Toleranz erfordert die Fantasie, auch auf der anderen Seite stehen zu können. Das macht das Tolerantsein so schwer. Was richtig ist. Toleranz muss einem etwas abverlangen, denn wenn dem nicht so ist, wenn man zu einer Sache neutral steht und die Person gewähren lässt, ist man nicht tolerant, dann ist es einem egal. Der Vorsitzende des „Forums für Didaktik der Philosophie und Ethik“ der Deutschen Gesellschaft für Philosophie Markus Tiedemann sagt daher: Um etwas tolerieren zu können, müssen wir es erst einmal schlecht finden.
Toleranz überwindet also Grenzen. Und hat selber keine? Der englische Philosoph Karl Popper jedenfalls zog 1945 eine: „Im Namen der Toleranz sollten wir uns das Recht vorbehalten, die Intoleranz nicht zu tolerieren.“ Die Grenze der Toleranz sei also dann erreicht, wenn die Intoleranten die tolerante Gesellschaft ausnutzen.
Es droht die Gefahr der Floskelhaftigkeit
Die „Null Toleranz für Intoleranz“-Parole hat Fans quer durch alle politischen Lager. Katarina Barley postete die Parole zum Tag gegen Rassismus, die FDP nennt sie auf ihrer Homepage als zentrales Schlagwort ihres Forderungskatalogs, der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach hat mit diesem Gedanken einen Beitrag für die „Bild“-Zeitung bestritten, und Cem Özdemir wird mit „Keine Toleranz für Intoleranz“ seit 2015 mindestens einmal jährlich zitiert.
Wenn eine Formulierung allseits beliebt ist, ist das allerdings auch ein Hinweis auf ihre Floskelhaftigkeit. Wenn die Toleranz als Universalwaffe eingesetzt wird, besteht die Gefahr, sie zu überstrapazieren und auch, sie falsch zu verstehen. Beim Paradox von Popper geht es schließlich nicht darum, ob man Intoleranz tolerieren muss, sondern darum, ob das, was der Intolerante nicht toleriert, zu tolerieren ist. Oder anders: Man sollte, trotz allem, zwischen Mensch und Meinung unterscheiden können. Den Menschen lässt man immer gelten, seine Meinung nur unter der Auflage, dass die sich im Rahmen der Verfassung befindet.
Wie schwierig diese Unterscheidung im Alltag ist, kann man an zwei aktuellen Fällen sehen: An einer Berliner Waldorfschule wurde nach monatelangen Diskussionen zwischen Eltern und Schülern Mitte Dezember das Kind eines AfD-Abgeordneten ausgeschlossen. Und die Autorin Margarete Stokowski hat im November für Unruhe in der Buchbranche gesorgt: Nachdem sie erfahren hatte, dass in der Buchhandlung, in der sie die Lesung für ihr neues Buch halten wollte, auch Bücher der sogenannten Neuen Rechten angeboten werden, sagte sie die Lesung ab. Beide Fälle zeugen von mangelnder Toleranz – im Gegensatz zur so oft attestierten falsch verstandenen Toleranz.
Die Waldorf-Schule sah nach eigener Aussage keine Möglichkeit, das Kind mit der nötigen Unvoreingenommenheit und Unbefangenheit aufzunehmen. Das ist zumindest ehrlich, sagt die Schule doch damit ganz klar, dass sie gar nicht erst versuchen wolle, tolerant zu sein. Das Anliegen war, sich klar von der Meinung der AfD zu distanzieren – dabei wurde aber das Kind getroffen. Die Schule konnte nicht zwischen Mensch und Meinung unterscheiden. Die Angst davor, was die Konsequenz einer gelebten und nicht nur propagierten Toleranz sein könnte, war zu groß.
"Dulden heißt Beleidigen". Sagt Goethe
Ginge es nach Johann Wolfgang von Goethe, wäre diese Angst im Hinblick auf die Konsequenzen von Toleranz nicht ganz unberechtigt. Er schrieb in der Aphorismensammlung „Maximen und Reflexionen“, Toleranz solle nur eine vorübergehende Gesinnung sein und müsse zur Anerkennung führen, denn: „Dulden heißt Beleidigen“. Gemeint ist damit, dass jede Ansicht, die von einem menschlichen Individuum gedacht wurde, anerkennenswert ist. Nur dann lebe man wirklich den Humanismus.
Demnach wäre Toleranz also nur eine Vorstufe zur Gleichwertigkeit von Ansichten und der daraus resultierenden Akzeptanz. Ist das tolerierbar? Oder mutet das nicht eher an wie eine Kapitulation vor Meinungen, die man eigentlich verabscheut? Und wie war das noch im Stück „Biedermann und die Brandstifter“ von Max Frisch?
Gottlieb Biedermann gibt zwei angeblichen Hausierern Obdach, die von Anfang an deutlich machen, dass sie böse Absichten haben und sein Haus in Brand zu stecken gedenken. Biedermann lässt sie gewähren und tut nichts. Sich selbst redet er ein, das habe alles nichts zu bedeuten – und am Ende steckt er ihnen sogar noch die Streichhölzer zu, mit denen sie dann sein Haus in Brand setzen.
Toleranz in Form von Duldung führt zu nichts außer Schrecken. Das Einzige, was in solchen Situationen helfen kann, ist ein Einschreiten, ein Aufbegehren, eine klare Haltung. Wie sonst sollte man „Wehret den Anfängen“ gerecht werden?
In eine ähnliche Kerbe schlägt der Schriftsteller Thomas Hürlimann in seiner Rede anlässlich des Schweizer Nationalfeiertags im August diesen Jahres: „Toleranz ist ein anderes Wort für Feigheit.“ Wer sich nicht mehr behauptet, wer nur noch erduldet, was auf ihn zukommt, der wird zur Leiche und verschwindet aus der Geschichte, bedindet er.
Doch zeigt sich hier auch ein allgemeines Missverständnis. Zwar bedeutet Toleranz in der wörtlichen Übersetzung „erdulden, erleiden“, aber davon, dass das widerspruchslos geschehen muss, ist nicht die Rede. Biedermanns Haus ist nicht deshalb abgebrannt, weil er tolerant gegenüber seinen unerfreulichen Besuchern war, sondern weil er die Augen verschlossen und nichts getan hat. Es waren Feigheit und Faulheit, die ihn zu dem Handeln bewogen. Nicht Toleranz, sondern falsch verstandene Toleranz. Denn nur die falsch verstandene Toleranz ist feige und legt die Hände in den Schoß, statt in Konfrontation zu gehen.
Weggehen gilt nicht. Wem will man die Haltung dann zeigen?
Aber nicht nur Toleranz kann falsch verstanden werden – auch „Haltung zeigen“ ist davor nicht gefeit. Meist wird „Haltung zeigen“ als Ausdruck innerer Überzeugung verstanden. Menschen, die sagen, sie wollen Haltung zeigen, wollen etwas demonstrieren, ein Zeichen setzen und klare Kante zeigen. Das reicht aber noch nicht, es geht auch um das Wie.
Wenn Margarete Stokowski eine Lesung absagt, weil am fraglichen Ort auch Bücher rechter Denker verkauft werden, setzt sie ein Zeichen gegen rechts, womit gemeint ist: gegen die zunehmende Normalität von Ansichten und Denkströmen, die noch vor zehn Jahren Nischenprodukte waren. Ihr Haltungzeigen bedeutete allerdings zugleich auch Rückzug: Margarete Stokowski entzog sich der Auseinandersetzung, statt über Meinungsfreiheit, Rassismus und Diskriminierung zu streiten. Verständlich einerseits, aber andererseits auch sehr bequem.
In gefühlt jeder zweiten Debatte, die momentan geführt wird, scheinen die Gesprächspartner überzeugt, schon längst zu wissen, was der andere sagen wird. Ergo flinke Schlussfolgerung: Da lohnt sich die Auseinandersetzung doch gar nicht mehr. Wie es auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in der Weihnachtsansprache als eine seiner Sorgen formulierte: „Immer mehr Menschen ziehen sich zurück unter ihresgleichen, zurück in die eigene Blase, wo alle immer einer Meinung sind – auch einer Meinung darüber, wer nicht dazugehört.“
In einer Demokratie sollte stattdessen alles, was sich im Rahmen der Verfassung befindet, der Diskussion würdig sein. Natürlich geht es einigen gar nicht darum, eine Meinung zu vertreten, sondern nur ums Provozieren. Aber das dürfte vor allem den öffentlichen Raum betreffen, aus dem es ein breites Feedback (gern in den sozialen Medien) gibt oder zumindest geben könnte, und weniger den privaten.
Natürlich ist das mitunter quälend
Und zum anderen: Die Zeit, in der man die Motive des Gegenübers hinterfragt, in der man überlegt, ob man jetzt entlarven oder eine Bühne geben soll, könnte man doch nutzen, dagegen zu argumentieren. Sich abzuwenden heißt nicht, Haltung zu zeigen, denn zum Haltung zeigen braucht man ein Gegenüber, dem man sie zeigen kann. Sonst ist Haltung, sei sie auch noch so ehrenwert, nichts weiter als ein Selbstgespräch.
Toleranz und Haltung, das eine geht nicht ohne das andere. Nur wenn man so tolerant ist, sich mit anderen Meinungen zu beschäftigen, immer wieder aufs Neue, im Sinne einer echten Auseinandersetzung, nur dann kann man eine Haltung entwickeln und diese auch begründen. Toleranz, im Sinne eines Existierenlassen des Menschen, nicht der Meinung, muss immer die Voraussetzung sein – für jede Diskussion, für jede persönliche Haltung. Anstatt Themen, die zu Streit führen werden, vorsichtshalber zu vermeiden und sich der Diskussion darüber zu entziehen, sollte man sich volle Kraft voraus in diese Debatten stürzen.
Natürlich ist das anstrengend und mitunter quälend. Wie viel lieber würde man den ganzen nervenzerreibenden Diskussionen den Rücken zukehren und jeden in seiner eigenen Lebenswirklichkeit leben lassen, inklusive sich selbst. Diese Bequemlichkeit wird der Demokratie aber nicht gerecht und kann ihr sogar sehr gefährlich werden. Toleranz ist schließlich nichts für Feiglinge.
Regina Wank