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Viele Deutsche fürchten um die Debattenkultur im Land (Symbolbild).
© picture alliance / dpa

Repräsentative Umfrage: Mehrheit der Deutschen beklagt fehlende Toleranz

Die Toleranz für unterschiedliche Meinungen habe abgenommen, glaubt die Mehrheit der Deutschen. Vertrauen in die Politik haben nur wenige, zeigt eine Studie.

Die Mehrheit der Menschen in Deutschland sieht die Debattenkultur und das gesellschaftliche Klima im Land in Gefahr – und fühlt sich von der Politik kaum noch ernst genommen. Das geht aus einer repräsentativen Studie hervor, für die das Meinungsforschungsinstitut Civey in dieser Woche im Auftrag des Tagesspiegels mehr als 5000 Menschen befragt hat. Die „Toleranz für unterschiedliche Meinungen“ habe „eher“ oder „eindeutig abgenommen“, findet eine große Mehrheit von rund 83 Prozent. Das Problem treibt Menschen aus allen politischen Lagern und sozialen Gruppen gleichermaßen um, zeigt die Umfrage.

SPD-Anhänger zeigen das meiste Vertrauen

Das gleiche gilt für die Sorge um das gesellschaftliche Klima insgesamt. Ob Mann oder Frau, jung oder alt – mehr als 90 Prozent in Ost und West halten die Stimmung in Deutschland für „angespannt“. Ein solch klarer Befund sei selten, sagt Paul Zernitz von Civey. „Das kommt nicht alle Tage vor.“ Normalerweise fänden die Meinungsforscher in ihren Umfragen stets große Unterschiede zwischen den Regionen, Geschlechtern, Alters- und Wählergruppen. In der Sorge um die Toleranz und das gesellschaftliche Klima im Land scheinen sich die Deutschen über alle Grenzen hinweg jedoch weitgehend einig zu sein.

Der Politik trauen die wenigsten eine Lösung für die Probleme zu. Auf die Frage, ob die Politik „die Sorgen der Menschen“ ernst nehme, antworteten knapp 80 Prozent: „Auf keinen Fall“ oder „eher nicht“. Am unzufriedensten sind AfD-Anhänger. Nur 2,1 Prozent von ihnen fühlen sich von der Politik ernst genommen. Das meiste Vertrauen in die Politik haben SPD-Anhänger. Fast ein Drittel von ihnen gab an, die Sorgen der Menschen werde von der Politik ausreichend ernst genommen.

Ist die Meinungsfreiheit bedroht?

Beim Thema Meinungsfreiheit gehen die Einstellungen der Deutschen weit auseinander. Seit Anfang August stellt Civey konstant die gleiche Frage: „Sind Sie der Ansicht, dass Sie Ihre Meinung in Deutschland frei äußern können?“ Die Mehrheit der Deutschen, rund 60 Prozent, antwortete mit „Ja“. Zwei Gruppen zeigen einen gegenläufigen Trend. Nur gut 17 Prozent der AfD-Anhänger vertrauen auf die Meinungsfreiheit. Ähnlich sehen es viele Ostdeutsche. 44 Prozent von ihnen denken, man könne seine Meinung nicht frei äußern. Im Westen sind das nur 30 Prozent.

Wenn so viele Menschen nicht mehr an die Meinungsfreiheit glauben – kann da überhaupt noch eine echte Diskussion stattfinden? Ja, ist der ehemalige CDU-Politiker und Leiter des Meinungsforschungsinstituts INSA, Hermann Binkert, überzeugt. „Ich halte den Dialog zwischen den Menschen deshalb für wichtig, weil die Unterschiede oft gar nicht so groß sind“, sagt er. „Bei vielen Themen ist ein Konsens möglich.“ Selbst in der Flüchtlingsfrage, dem Reizthema Nummer eins, könnten die Unterschiede der verschiedenen Lager – Befürworter und Gegner der aktuellen Flüchtlingspolitik – überwunden werden. So zeigten INSA-Studien, dass beide Seiten etwa beim Thema „Obergrenze“ näher bei einander lägen als erwartet. Dass eine Gesellschaft nur eine bestimmte Zahl an Einwanderern auf einmal aufnehmen könne, werde von niemandem wirklich bezweifelt. An solchen unstrittigen Punkten könne ein Dialog ansetzen, sagt Binkert.

20.000 Menschen wollen sich streiten

Den Dialog fördern will die bundesweite Aktion „Deutschland spricht“, zu der elf deutsche Medienhäuser, darunter auch der Tagesspiegel, aufgerufen haben. 28.000 Menschen aus ganz Deutschland haben sich dafür online registriert. Im Durchschnitt sind die Teilnehmer rund 40 Jahre alt, mehr als zwei Drittel der Anmeldungen kommen von Männern. Sie wollen an diesem Wochenende ein Experiment wagen und jemanden für ein Gespräch treffen, mit dessen Einstellungen sie überhaupt nicht übereinstimmen.

An diesem Sonntag um 15 Uhr ist es soweit. Zeitgleich zu einer zentralen Veranstaltung mit rund 500 Gästen in Berlin kommen überall in Deutschland 10.000 per Algorithmus bestimmte Gesprächspaare zur Vier-Augen-Gesprächen zusammen – um sich über unterschiedliche Fragen zu streiten. Ist Donald Trump gut für die USA? Sollte Deutschland seine Grenzen strikter kontrollieren? Können Muslime und Nicht-Muslime in Deutschland gut zusammenleben? Sollen Deutschland Innenstädte in Zukunft autofrei sein?

Alte Männer versus junge Frauen

Bei den meisten Fragen herrscht unter den Teilnehmern viel Übereinstimmung, zeigen die Daten von „Deutschland spricht“. Die wenigsten (rund 10 Prozent) glauben, Trump sei ein guter Präsident. Die meisten, mehr als 85 Prozent, sehen keine Probleme beim Zusammenleben von Muslimen und Nichtmuslimen. Autofreie Innenstädte wollen knapp 70 Prozent. Am meisten entfernt von einander liegen die Überzeugungen zweier Gruppen unter den Anmeldungen: den alten Männern und jungen Frauen. Zwischen ihnen ist für diesen Sonntag der größte Streit zu erwarten – sei es bei Trump, dem Islam oder dem Straßenverkehr in Deutschland.

Das Ziel von „Deutschland spricht“ ist, der Polarisierung in der Gesellschaft etwas entgegen zu setzen. Die Schirmherrschaft hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier übernommen. In den vergangenen Monaten hat er sich immer wieder für mehr Dialog und gesellschaftliches Miteinander ausgesprochen – und gewarnt: „Wenn politische Kontrahenten sich nicht mehr als Gegner, sondern als 'Feinde' begegnen, dann geht etwas verloren, was für die Demokratie überlebenswichtig ist: nämlich die Bereitschaft zur Vernunft.“

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