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Ein Bild der Familie Hadrossek aus den anfangs glücklichen Tagen. Später wurde der Vater als deutscher Spion erschossen, die Mutter war jahrelang in einem Gulag inhaftiert.
© privat

8. Mai - 70 Jahre Ende des Zweiten Weltkrieges: Todesangst vor der Muttersprache

Heinz Hadrossek musste in der Sowjetunion jahrzehntelang unter dem Namen Gennadi Gajew leben, weil er fürchtete, wie seine Eltern als deutscher Spion verhaftet zu werden. Am Kriegsende fühlte er sich trotzdem als Sieger.

Der Auftrag, den Gennadi Gajew frühmorgens am 9. Mai 1945 vom Chef des Staatsgutes bekam, war ungewöhnlich, aber klar und eindeutig: Er sollte anspannen, Fahnen, Transparente und die Schweinezüchterinnen auf den Anhänger laden und mit der Fuhre schnellstens zum Kulturhaus ins Nachbardorf fahren. Wenige Stunden zuvor hatte Hitlerdeutschland kapituliert, in der ganzen Sowjetunion finden Festveranstaltungen statt. Die Feier in Lopatki im Südural, wo Gajew als Maschinenschlosser arbeitet, fällt wegen der Frühjahrsbestellung extrem kurz aus. „Unser Vorsitzender“, sagt der heute 87-Jährige, „hielt im Kulturhaus eine kurze Rede. Das war’s.“

Einen einzigen Satz daraus hat er behalten: „Wir haben gesiegt.“ Als Sieger fühlt sich auch Gennadi Gajew. Nicht ein einziges Mal schießt ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er, streng genommen zu den Besiegten gehört. Denn eigentlich heißt Gennadi Gajew Heinz Hadrossek.

Seine Eltern halfen als deutsche Kommunisten beim Aufbau der Sowjetunion mit

Er ist der Sohn deutscher Spezialisten, die Stalin in den zwanziger Jahren für den Aufbau der jungen Sowjetunion anheuerte. Dem Ruf folgten meist Kommunisten. Vor allem jene, die zu Hause Ärger mit Polizei und Staatsanwälten haben. Sie sind auch hinter Wilhelm und Luise Hadrossek her, den Eltern von Heinz, der 1927 in Balzer in der Autonomen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen zur Welt kommt. Er holt ein Album mit angegilbten Schwarz-Weiß-Fotos hervor. Sie zeigen Menschen mit fröhlichen Gesichtern bei Radtouren und Bootsausflügen. „Da“, sagt Gennadi beziehungsweise Heinz, „das ist Arthur Pieck, der Sohn von Wilhelm, dem ersten Präsidenten der DDR.“

Auf einem anderen Foto macht Heinz seine ersten Schritte auf Skiern. „Im Winter 1935 war das, ich war acht“, sagt er. Die Familie ist inzwischen nach Kunzewo umgezogen, heute ein Stadtteil von Moskau. Die Mutter arbeitet als Sekretärin bei Wilhelm Pieck, der Vater ist technischer Direktor einer Fabrik. 1936 wird er verhaftet.

Neidische Nachbarn, glaubt Heinz, hätten ihn als Volksfeind denunziert. „Wir hatten eine große, für damalige Zeiten komfortable Wohnung. Nach der Verhaftung durften wir davon nur ein Zimmer behalten, Küche und Bad mussten wir mit den neu einquartierten Familien teilen.“ Der Vater kommt, so wie fast alle der insgesamt rund 200 deutschen Spezialisten in Kunzewo in den berüchtigten Gulag an der Kolyma in Nordostsibirien. „Ein Bekannter, der nach wenigen Monaten überraschend entlassen wurde, hat ihn dort gesehen. Und lange mit Mutter in der Küche getuschelt. Danach hat sie mit rot geweinten Augen an meinem Bett gesessen.“

1938 wurde sein Vater erschossen, wie Heinz viele Jahre später erfährt. „Am 22. Mai. Einen Tag nach meinen elften Geburtstag.“

Heinz begeht ihn in einem Kinderheim. Denn 1937 wird auch die Mutter von Stalins Geheimpolizei verhaftet. „Die Leute vom NKWD kamen mit zwei Autos vorgefahren. Mutter setzten sie in das eine, mich in das andere. Senta hat jämmerlich geheult und wollte mit.“ Die Schäferhündin, die den kleinen Heinz offenbar beschützen wollte. Sie sei immer wieder gekommen, werden Nachbarn ihm viele Jahre später erzählen.

Im Heim wird Heinz wie ein Schwerverbrecher fotografiert: „en face und en profile. Fingerabdrücke haben sie auch gemacht und auf der Brust musste ich ein großes Pappschild mit Vor- und Nachnamen tragen.“

Mit der Aussprache haben die Erzieher massive Probleme. Nicht nur bei Heinz. Das Kinderheim im Gebiet Kalinin nordwestlich von Moskau – heute Twer – ist ein besonderes. Ein internationales, wo Söhne und Töchter von Funktionären kommunistischer „Bruderparteien“, die ins sowjetische Exil gingen und als „Volksfeinde“ enttarnt wurden, verwahrt und umerzogen werden. „Wir wurden gut behandelt“, sagt Heinz. Sogar ein Foto darf er der Mutter schicken. „Sie hat mir, als wir uns nach 25 Jahren durch den Suchdienst des Internationalen Roten Kreuzes wiederfanden, erzählt, sie habe es im Lager am Leib getragen.“ Aus Angst, man könnte es ihr wegnehmen.

Heinz Hadrossek lebt seit 20 Jahren in Berlin - und spricht nur Russisch

„Zu Fuß und bei beißender Kälte“, sagt Heinz, „haben sie Mutter und die anderen Frauen von Volksfeinden von Moskau nach Nordkasachstan unter Bewachung abtransportiert. Als sie einmal erschöpft ein paar Schritte hinter der Kolonne zurückblieb, hat ein Hund sie in den Knöchel gebissen.“

Wie wird ein Mensch, der vom Sieg des Kommunismus als beste und gerechteste aller Weltordnungen überzeugt ist und die Sowjetunion lange für die Vorwegnahme der lichten Zukunft und Modell des idealen Staates verklärte, mit Derartigem fertig?

Eine direkte Antwort will oder kann Heinz nicht liefern. „Sie hat später in der DDR hohe Auszeichnungen bekommen und ein Ehrengrab in der Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin.“

Er sagt es auf Russisch. Obwohl er seit mehr als 20 Jahren in Berlin lebt. „Er versteht Deutsch problemlos“, sagt Olga, die Schwester seiner Schwiegertochter. „Aber er kann es nicht sprechen. Die Angst davor hat sich im Krieg zu tief in ihm eingebrannt.“ Die Angst, hunderte Kilometer hinter der Front als Spion des Feindes enttarnt zu werden. Obwohl er noch ein halbes Kind war, glaubt Olga, hätte man mit ihm kurzen Prozess gemacht.

Nachts zog er den Toten Filzstiefel und Wattejacken aus. Für die Flucht

Heute lebt Heinz Hadrossek in Berlin-Steglitz.
Heute lebt Heinz Hadrossek in Berlin-Steglitz.
© Olga Auerswald

Als Hitler am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfällt, müssen Heinz und die anderen Heimkinder zum Appell antreten. „Vorne stand der Heimleiter, der schon den Gestellungsbefehl in der Tasche hatte.“ Drei Wochen später kam seine Todesnachricht von der Front, die in unglaublichem Tempo näher rückte. „Schon eine Woche später sahen wir die ersten deutschen Bomber Richtung Moskau über uns hinwegdonnern.“ Das Heim wird teilweise zum Lazarett umfunktioniert. Die Heimkinder pflegen Verwundete, bis sie im Spätherbst selbst evakuiert werden.

Es geht die Wolga abwärts. Per Schiff, das für Wochen vom Eis eingeschlossen ist. Die Kinder betteln in den umliegenden Dörfern um Essen, aber die Bewohner, die alles für die Front abliefern müssen, haben selbst nichts. Die Reise endet schließlich im Gebiet Tscheljabinsk im Ural. Heinz, inzwischen 14, beginnt eine Lehre. Zuerst als Zimmermann, dann als Elektriker. Dann wird er eingeteilt für die Arbeitsarmee zum Bau von Baracken. Die Ausbilder sind ehemalige Häftlinge, verurteilt wegen Herstellung von Falschgeld. Jetzt fälschen sie Brotmarken. Heinz wird mit dem „Produkt“ in die Dörfer geschickt, tauscht dafür Sauermilch und Speck ein.

Ein Vorarbeiter sagte: "Lauf', solange die Beine dich noch tragen"

„Uns standen pro Tag regulär nur 500 Gramm Brot zu und ein Teller Suppe. Die bestand fast nur aus heißem Wasser, in dem ein paar Makkaroni schwammen. Die Menschen waren ausgemergelt wie Skelette und starben wie die Fliegen. Die Leichen stapelten sich im Schuppen in mehreren Schichten übereinander.“ Bestattung im steinhart gefrorenen Boden sei zu anstrengend gewesen, sagt Heinz. Nachts hätten sie im Schuppen den Toten Filzstiefel und Wattejacken ausgezogen. Für die Flucht. Ein wolgadeutscher Vorarbeiter hatte Heinz zur Seite genommen: „Hier, hat er gesagt, kann man nicht überleben. Lauf’, solange die Beine dich noch tragen. Und leg’ dir eine andere Identität zu.“ Es sind für Jahre die letzten deutschen Worte, die Heinz hört.

Sie sind zu sechst, als sie sich auf die Reise zu den Hochöfen von Magnitogorsk machen. Dort soll es mehr und besseres Essen geben. Doch in den Zügen sucht das NKWD nicht nur nach Deserteuren, sondern auch nach denen, die sich vor der Arbeitsarmee drücken. Sie springen auf Güterwagen, später auf das Trittbrett eines Personenzugs. Es wird eng. Heinz, der Schmächtigste, hat die schlechtesten Karten, seinen Platz zu verteidigen und nicht auf die Gleise heruntergeschubst zu werden. „Ich hab in meiner Angst laut geschrien, da ging die Tür auf und eine Hand zog mich hinein.“ Es war die Hand eines NKWD-Mannes. „Ich habe ihm erzählt, ich sei ein Heimkind, das im Schneesturm von der Kolonne abgekommen ist. Weil ich so klein war, hat er mir geglaubt.“

Bei Kontrollen auf dem Bahnhof von Magnitogorsk tischt er dem NKWD dasselbe Märchen auf, wieder wird ihm geglaubt. Bevor er zur Arbeitsverwaltung geht, verkauft er Wattejacke und Filzstiefel auf dem Markt. „500 Rubel habe ich dafür bekommen, mir Brot und Sauermilch gekauft. Es reichte sogar noch für eine Kinokarte. Es war mein erster Farbfilm. Eine Art Tarzan.“

Für die Arbeit in den Hochöfen ist Heinz zu schmächtig und zu jung. Er bekommt einen Platz im Lehrlingswohnheim, Verpflegung inklusive. Und nach sechs Monaten ein Zertifikat, das ihm den erfolgreichen Abschluss der Ausbildung als Maschinenschlosser bescheinigt, sowie einen Ausweis. Auf beiden steht: Gennadi Gajew. Es ist der Name seines besten Schulfreundes aus Kunzewo. „Und zumindest die Anfangsbuchstaben stimmten“, sagt Heinz. Gennadi ist die russische Form seines Vornamens und Gajew fängt mit G an wie Gadrossek, wie ihn die Russen zuvor genannt hatten, weil sie aus dem H in Fremdworten stets ein G machen.

Mit einem Ferkel kauft er sich von einer Strafe wegen Fahren ohne Führerschein frei

Gennadi Gajew steht auch auf der Fahrerlaubnis, die er macht, nachdem er beim Fahren ohne Führerschein erwischt worden ist. Für den Erlass der Strafe und die Fahrprüfung verspricht er ein Ferkel – und liefert prompt. Denn inzwischen arbeitet er auf dem Staatsgut in Lopatki, wo er kurz darauf auch die Schweinezüchterinnen zur Siegesfeier fährt. Später zieht er ins nahe Schtschadrinsk, in der Kleinstadt lernt er seine Ehefrau Alexandra kennen. 1964 wird ihr Sohn Viktor geboren. Mehrmals besucht Heinz beziehungsweise Gennadi seine Mutter, die inzwischen in Teltow bei Berlin lebt. An Ausreise aber denkt er nicht.

Bis eine Anzeige wegen Pornografie kommt. Mit Videorekorder und dreizehn Kassetten hatte Viktor in der Perestroika versucht, sich als Geschäftsmann in Russland selbstständig zu machen. Das Verfahren wird zwar nach langem Hickhack und erst durch ein Gutachten des Staatlichen Instituts für Kinematografie in Moskau eingestellt. Doch Viktor hat „die Schnauze voll“ und drängt den Vater, von der Rückkehr-Möglichkeit für Spätaussiedler Gebrauch zu machen. 1992 packen sie die Koffer. Erst in Deutschland nimmt er seinen alten Namen wieder an. Heinz Hadrossek steht auf dem Schild an der Wohnungstür in Berlin-Steglitz.

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