Kriegsende in Berlin: 2. Mai 1945: Das Morden der Nazis währte bis zum Schluss
Kurz vor Kriegsende brachten Nationalsozialisten noch hunderte Berliner um, die sich ergeben wollten. Manchmal war das nur wenige Stunden vor der Kapitulation der Stadt am 2. Mai 1945.
Dieser Text ist zuerst am 2. Mai 2015 zum 70. Jahrestag der Kapitulation Berlins erschienen. Anlässlich des 73. Jahrestages empfehlen wir ihn erneut.
Als die SS ihn im Keller findet, ist der Krieg, ist Berlin längst verloren. Es sind die letzten Tage im April 1945. Die Rote Armee steht schon auf dem Alexanderplatz. Der 17-Jährige hat sich versteckt, weil er nicht mehr kämpfen will. Weil er geahnt hat, wie sinnlos das alles ist. Die SS-Soldaten zerren ihn auf die Uhlandstraße, sie besorgen eine Wäscheleine und dann erhängen sie ihn an einer Straßenlaterne. Um den Hals binden sie ihm ein Schild: „Ich bin ein Volksverräter“.
70 Jahre später erinnert eine kleine Tafel auf der Kreuzung Uhlandstraße/Berliner Straße an den unbekannten Jugendlichen, der hier gestorben ist.
„Wieso ist die Tafel denn hier? Der hat doch da drüben gehangen.“ Regina Villwock zeigt auf einen Lampenladen auf der anderen Seite der Kreuzung. Sie war damals 15 Jahre alt und hat ganz in der Nähe gewohnt. Als sie nach mehreren Tagen im Luftschutzkeller die Uhlandstraße entlangging, hing dort der Junge. „Ich stand davor und konnte ihm nicht ins Gesicht schauen.“
Je mehr die deutsche Armee von der Sowjetunion und den West-Alliierten zurückgedrängt wurde, desto aggressiver wandte sich der Vernichtungsapparat der Nazis gegen jene, die sie noch beherrschten: die eigenen Soldaten und die Bevölkerung von Berlin. Zwischen Januar und April 1945 wurden allein 277 Wehrmachtssoldaten in der Murellenschlucht in Ruhleben hingerichtet – überwiegend wegen „Fahnenflucht“ und „Wehrkraftzersetzung“. Insgesamt vollstreckte die Wehrmacht mehr als 20.000 Todesurteile gegen eigene Soldaten – und da sind die so genannten Endphaseverbrechen des Zweiten Weltkriegs, wie die gegen den 17-Jährigen in der Uhlandstraße, nicht eingerechnet.
Hunderte kamen in der letzten Dämmerung des „Dritten Reichs“ in Berlin durch Lynchjustiz ums Leben, manche noch in den letzten Stunden vor der Kapitulation. Die Opfer kamen aus allen Teilen der Bevölkerung: Soldaten, Zivilisten, Frauen, Männer, Nazis, Sozialdemokraten, Jugendliche. Je mehr die Loyalität zum Regime zerfiel, desto stärker antwortete der Nazi-Apparat, auch zuletzt noch, mit Terror. SS-Chef Heinrich Himmler erließ noch im März 1945 einen Befehl, der die Kapitulation unter Todesstrafe stellte.
„An den Bäumen hingen Volkssturmleute und Soldaten. Die Pappschildchen vor ihren Uniformröcken waren einigermaßen leserlich und besagten, dass an den Bäumen Verräter hingen.“ So erinnert sich Günter Grass in der „Blechtrommel“ an die „jungen Burschen in zu großen Uniformen“, die überall in Deutschland starben, weil sie nicht mehr kämpfen wollten.
"Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein"
Rehabilitiert wurden die Opfer erst sehr spät. Die Standjustiz der Nazis wurde noch bis in die 80er Jahre hinein von bundesdeutschen Gerichten als rechtmäßig angesehen. Der ehemalige Nazi-Richter und Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Hans Filbinger, brachte das auf die zynische Formel „Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein.“ Erst 1991 stellte das Bundessozialgericht fest, dass die Tötungen wegen „Fahnenflucht“ und „Wehrkraftzersetzung“ Verbrechen waren.
In der Uhlandstraße hatten anfangs die Einwohner des Viertels noch jedes Jahr Blumen für den Ermordeten niedergelegt. Irgendwann geriet das Verbrechen in Vergessenheit. Die Straßenlaterne, an der der junge Mann starb, wurde durch ein moderneres Modell ersetzt. Durch die Plakette wird die Erinnerung wieder wachgerufen. Den Wartenden an der Ampel empfängt nun die schlichte Inschrift: „Hier wurde in den letzten Tagen des April 1945 ein 17-Jähriger von Nationalsozialisten erhängt. Zur Erinnerung an ihn und alle anderen, die sich der Teilnahme am Krieg verweigerten und deshalb ermordet wurden.“
Johannes Böhme