Absage an Gebietsabtrennungen: Selenskyj offenbar bereit über Neutralität der Ukraine zu verhandeln
Garantiestaaten könnten die USA, die Türkei und die Nachbarländer sein. Russland müsse zweifelsfrei die ukrainische Staatlichkeit anerkennen, heißt es.
Die Ukraine schließt nicht aus, in Verhandlungen mit Russland auch über eine mögliche Neutralität des Landes zu sprechen. „Solche Fragen ließen sich in Verhandlungen diskutieren, das ist durchaus möglich“, sagte Ihor Showkwa, außenpolitischer Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, am Dienstagabend in den ARD-„Tagesthemen“ auf die Frage, ob die Ukraine bei Verhandlungen bereit sein könnte, einen neutralen Status zu akzeptieren. Showkwa warb für ein Treffen auf Präsidentenebene.
Nur durch ein Treffen des russischen Präsidenten Wladimir Putin mit Selenskyj seien ernsthafte Verhandlungen möglich, betonte er.
Selenskyj sei dazu bereit. Leider bestehe auf russischer Seite dazu keine Bereitschaft. Die internationalen Partner sollten helfen, ein solches Treffen zustande zu bringen. Solche Verhandlungen und eine mögliche Übereinkunft könnten aber erst zustande kommen, wenn die Kriegshandlungen aufgehört hätten und es einen Waffenstillstand gäbe.
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Dann könnte man diskutieren, „wie es mit einer möglichen Neutralität der Ukraine aussehen könnte“, sagte Showkwa. „Wir brauchen deshalb strikte Garantien, damit eine solche Situation nie wieder eintreten kann“, fügte er hinzu. „Wir sind ja nicht die Aggressoren, wir werden nie die Angreifer sein.“
„Garantiestaaten könnten die USA, die Türkei und die Nachbarstaaten der Ukraine werden“, hieß es zuvor in einer Mitteilung der ukrainischen Regierungspartei Sluha Narodu (Diener des Volkes). Zudem müsse Russland zweifelsfrei bestätigen, dass es die ukrainische Staatlichkeit anerkenne „und garantiert, dass es unseren Staat nicht bedrohen wird“.
Seit 2019 ist das Ziel des Nato-Beitritts in der ukrainischen Verfassung festgelegt. Russland fordert, dass die Ukraine darauf verzichtet und sich für neutral erklärt.
Sluha Narodu zeigte sich in seiner Mitteilung dazu bereit, ihr Ziel eines Nato-Beitritts aufzuschieben. „Die Allianz ist nicht bereit, die Ukraine im Verlauf der nächsten mindestens 15 Jahre aufzunehmen und hat dies deutlich gemacht“, heißt es.
Keine Gebietsabtrennungen an Russland
Gebietsabtretungen an Russland erteilte die Regierungspartei erneut eine Absage. „Wir erwägen nicht einmal theoretisch die Möglichkeit, (...) Teile unseres Territoriums aufzugeben. Das ist nicht akzeptabel. Unsere Ukraine - dazu gehören auch Donezk, Luhansk und die Krim.“
Am Montag hatte sich Selenskyj im US-Sender „ABC“ zu Gesprächen über den Status der ostukrainischen Separatistengebiete und der von Russland annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim bereit gezeigt. Auch er hatte aber betont, er werde nicht auf die russischen Forderungen eingehen, die Unabhängigkeit der selbst ernannten „Volksrepubliken“ sowie die russische Herrschaft über die Krim anzuerkennen.
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Weiter sagte der ukrainische Präsident: „Wir können diskutieren und einen Kompromiss finden, wie diese Gebiete weitermachen können.“ Wichtig sei, darauf zu achten, wie es den Menschen dort ergehe, die Teil der Ukraine sein wollten. Es handle sich um eine viel kompliziertere Frage als nur um eine Anerkennung. „Dies ist ein weiteres Ultimatum, und wir erkennen keine Ultimaten an.“
Selenskyj forderte erneut den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu direkten Verhandlungen auf. „Was Präsident Putin tun muss, ist, ein Gespräch zu beginnen, einen Dialog, anstatt weiter in einer Informationsblase ohne Sauerstoff zu leben.“ Er räumte ein, dass Russland die Lufthoheit über der Ukraine habe. Er forderte erneut eine Flugverbotszone. Es gehe darum, Raketenbeschuss auf zivile Einrichtungen zu verhindern.
„Wir sind alle vor Ort, alle arbeiten“
Zuvor hatte Selenskyj bekräftigt, trotz der Kämpfe um die Hauptstadt ebenjene nicht verlassen zu wollen. „Ich bleibe in Kiew, in meinem Büro“, sagte er in einer am Montagabend veröffentlichten Videobotschaft. „Ich verstecke mich nicht, ich bleibe in meinem Büro. Und ich habe vor niemandem Angst.“
„Heute ist der zwölfte Abend unseres Kampfes, unserer Verteidigung. Wir sind alle vor Ort, alle arbeiten. Jeder, wo er muss. Ich bin in Kiew, mein Team mit mir“, sagte Selenskyj.
Nach Angaben des Präsidialamts rief Selenskyj die ukrainischen Soldaten zurück, die in Auslandsmissionen eingesetzt sind. Die „hochprofessionellen Militärs“ würden im Kampf gegen die „russische Aggression“ benötigt, hieß es. Ukrainischen Medien zufolge beteiligt sich das Land an Einsätzen im Kosovo, Kongo und der Elfenbeinküste.
Selenskyj kritisierte zudem scharf einen russischen Luftangriff westlich von Kiew, bei dem nach ukrainischen Angaben mindestens 13 Zivilisten getötet worden waren. „Heute haben sie in Makariw in der Region Kiew eine Bäckerei beschossen. Wofür? Eine alte Bäckerei. Denken Sie nach: sie beschießen eine Bäckerei. Wer muss man sein, um so etwas zu tun?“
Moskau will nach eigenen Aussagen keinen Regierungswechsel
Russische Truppen stehen nordwestlich von Kiew und versuchen, auch von Westen auf die Hauptstadt vorzurücken. Russland beharrt darauf, dass seine Truppen keine zivilen Ziele in der Ukraine angreifen.
Selenskyj sagte, man werde weiter mit Russland sprechen. „Wir sind Realisten. Deshalb werden wir reden. Wir werden auf Verhandlungen bestehen, bis wir einen Weg finden, unseren Menschen zu sagen: So kommen wir zum Frieden“, sagte er. Jeder Tag des Kampfes schaffe „bessere Bedingungen“ für die Ukraine. „Eine starke Position. Um unsere Zukunft zu sichern. Nach diesem Krieg.“
Laut Angaben des Außenministeriums in Moskau zielt der russische Militäreinsatz in der Ukraine nicht auf den Sturz der ukrainischen Regierung. Der Einsatz laufe strikt nach Plan, sagt die Ministeriumssprecherin Maria Sacharowa. Die Regierung im Moskau wolle ihre Ziele eines neutralen Status der Ukraine durch Gespräche erreichen und hoffe, dass die nächste Verhandlungsrunde mit der Ukraine bedeutendere Fortschritte erzielen werde.
Äußerungen Putins in der Vergangenheit hatten dagegen den Eindruck erweckt, Russland wolle die Regierung stürzen und durch eine kremlfreundliche ersetzen. Auch westliche Geheimdienste hatten unter Berufung auf russische Quellen von diesem Ziel berichtet. (dpa, AFP)