Merkels Regierungserklärung: Taktische Zurückhaltung
Warum über Deutschlands Brexit-Vorstellungen so wenig Konkretes verlautbart. Ein Kommentar.
Hätte sich vor einem halben Jahr jemand vorstellen können, dass Angela Merkel bei einer Regierungserklärung explizit auf die Belange von verbeamteten Lehrern mit britischer Staatsangehörigkeit eingehen würde? Es zeigt vor allem eines: Das Risiko steigt, dass die EU und Großbritannien am Ende des Jahres bei den Brexit-Verhandlungen ohne Ergebnis dastehen.
Regierungserklärungen der Kanzlerin vor EU-Gipfeln drehen sich in aller Regel um das große Ganze – etwa die Vorteile des Schengen-Raums und des Euro sowie die Schwierigkeiten bei der Gestaltung einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik. Dass Merkel daneben am Mittwoch aber auch auf die Sorgen britischer Lehrer in Deutschland einging, lenkt den Blick auf die konkreten Folgen eines „No-Deal-Szenarios“. Je näher der Brexit am 29. März 2019 rückt und je wahrscheinlicher dabei ein ungeregelter Austritt wird, umso mehr rücken auch Detailfragen in den Mittelpunkt: Wie groß wäre der Zeitverlust, der mit Zollkontrollen für Lkw am Ärmelkanal verbunden sein könnte? Worauf müssen sich Erasmus-Studenten demnächst einstellen? Was würde ein ungeordneter Brexit für startende und landende Flugzeuge bedeuten?
Merkel hat sich unmittelbar vor einem EU-Gipfel, der sich zum x-ten Mal mit dem Ausscheiden der Briten beschäftigt, einem Drahtseilakt gestellt: Einerseits gilt es, trotz des Verhandlungsrückschlags vom vergangenen Wochenende, jetzt nicht die Pferde scheu zu machen. In den nächsten Wochen bleibt der EU und Großbritannien nämlich immer noch genug Zeit, um die Frage zu klären, wie sich in Zukunft eine „harte Grenze“ auf der irischen Insel vermeiden lässt. Sowohl die britische Regierungschefin Theresa May als auch der EU-Chefverhandler Michel Barnier haben in den letzten Tagen noch einmal deutlich gemacht, dass sie es nicht auf ein No-Deal-Szenario ankommen lassen wollen.
Gegen eine derart optimistische Lesart spricht allerdings, dass May möglicherweise gar nicht mehr über den politischen Spielraum verfügt, der zur Lösung der Nordirland-Frage nötig wäre. Von daher war es richtig, dass Merkel in ihrer Rede vor dem Bundestag auch signalisierte: Wir sind für den Ernstfall gewappnet und kümmern uns schon einmal vorsorglich um die Belange der vom Brexit betroffenen Bürger, die aus Deutschland und Großbritannien ihre zweite Heimat gemacht haben.
Doch das ist nicht alles: Wegen der zahlreichen Verflechtungen der deutschen Automobilindustrie mit der britischen Insel hat Deutschland mehr als alle anderen EU-Partner ein Interesse daran, einen ungeregelten Brexit zu verhindern. Dies klang aber in Merkels Erklärung nur nebenbei an. Die Zurückhaltung der Kanzlerin hat dabei einen taktischen Grund: Bei den Verhandlungen wird es auch in den kommenden Wochen darum gehen, die Geschlossenheit der 27 EU-Partner zu wahren und den Briten keinesfalls eine Sonderregelung zu gewähren, die das Kronjuwel der Europäischen Union gefährden würde – den Binnenmarkt.