Terminabsagen von bis zu 40 Prozent: Täglich verzichten Zehntausende auf ihre Impfung – was steckt dahinter?
Der Impfkampagne gerät ins Stocken. In mehreren Teilen Deutschlands sinkt die Impfbereitschaft – trotz Delta-Variante.
Rasant breitet sich die Delta-Variante jetzt auch in Deutschland aus. Ihr Anteil hat sich binnen sieben Tagen mehr als verdoppelt. Innerhalb von zwei Wochen kletterte sie zudem laut Mutationsbericht des Robert-Koch-Instituts (RKI) von 3,7 auf 15 Prozent. Dass sie hierzulande die Oberhand gewinnt, gilt als sicher. Die Frage ist nur, wann.
Gegen dieses Grassieren der Delta-Variante setzt die Bundesregierung im Wesentlichen auf ein einziges Rezept: Impfen, Impfen, Impfen. Mit Blick auf die versprochenen Liefermengen rechnet Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) damit, dass „bis Ende Juli/Anfang August wirklich jeder, der möchte auch seine erste Impfung bekommen hat“. Aber es schwingt eine große Sorge mit – „je nach dem, wie hoch die Impfbereitschaft ist“.
Diese Sorge ist nicht unbegründet. Es mehren sich die Anzeichen, dass der Impfmotor tatsächlich ein wenig ins Stottern gerät. Das zeigt eine Tagesspiegel-Umfrage in den Gesundheitsministerien aller 16 Bundesländer zu ausgefallenen Impfterminen. Demnach liegt der Anteil gestrichener Impftermine zwischen einem und sechs Prozent. Bei deutschlandweit täglich mehr als 800.000 Impfungen fallen also an jedem Tag Zigtausende komplett aus.
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Besonders viele Impfschwänzer gibt es offenbar in Mecklenburg-Vorpommern – hier schwanken die Terminabsagen zwischen 15 und 40 Prozent. Für die gibt es auch keine Ersatz-Impfwilligen. Was sind laut Gesundheitsminister Harry Glawe (CDU) die Gründe? Andere Termine bei den Hausärzten – oder aber die Urlaubszeit.
Zum Ferienbeginn zieht sich deshalb noch nicht bundesweit das große Schwänzen durch das Land, es zeigt sich aber eine leichte Tendenz zur Impfbummelei. Zu beobachten ist das etwa in Hessen, Rheinland-Pfalz, Bremen oder Sachsen.
Bundesländer mit vielen abgesagten Impfterminen:
- Beispiel Hessen: „Aktuell beläuft sich die No-Show-Rate, also die Rate der Termine, die in den Impfzentren schlicht nicht wahrgenommen werden, in ganz Hessen auf rund 20 Prozent“, teilt das Landesgesundheitsministerium dem Tagesspiegel mit. Es werde zwar dafür gesorgt, dass trotz dieser Anzahl an nicht wahrgenommenen Terminen keine Impfstoffe deswegen ungenutzt verworfen werden müssten. Wie viele es genau sind, kann das Ministerium aber nicht beziffern.
- Beispiel Rheinland-Pfalz: 15 Prozent der Termine werden nicht wahrgenommen. Bis zu sechs Prozent fallen komplett aus.
- Beispiel Nordrhein-Westfalen: Der Anteil der nicht wahrgenommenen Termine lag laut Kassenärztlicher Vereinigung zuletzt bei sechs Prozent.
Auch in Bremen bewegt sich der Anteil der nicht wahrgenommenen Termine nach Angaben aus dem Haus von Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard (Linke) im „mittleren bis oberen einstelligen Prozentbereich. „Im Vergleich zu den vergangenen Monaten ist eine leichte Zunahme zu beobachten“, schreibt ihre Sprecherin. „Mögliche Ursachen sind sehr wahrscheinlich Doppelbuchungen bei niedergelassenen Ärzt:innen und im Impfzentrum.“
Doch in den Praxen läuft es ebenfalls nicht richtig rund. „Gerade jetzt müssen wir aufpassen, den Schwung nicht zu verlieren“, beklagt Hausärztechef Ulrich Weigeldt. Er warnte vor einer Verlangsamung der Impfkampagne in den bevorstehenden Sommerferien: Dies wäre „fatal“.
Kassenarztchef Andreas Gassen warnt bereits die Bevölkerung vor Leichtsinn: „Die derzeit hohe Impfbereitschaft der Bürgerinnen und Bürger darf nicht nachlassen. „Wir dürfen nicht sorglos und damit leichtsinnig werden.“ Schließlich besteht auch in den Praxen das Impfbummler-Problem. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung mahnt, wenigstens rechtzeitig abzusagen. „Ansonsten verfallen nicht nur Terminoptionen, sondern unter Umständen müssen wertvolle Impfstoffe vernichtet werden“, schreibt ein KBV-Sprecher dem Tagesspiegel.
Zu einer solchen Situation kann es immer wieder auch in Sachsen kommen. Eine Stichprobe des Deutschen Roten Kreuzes zeigt, dass hier im Juni mehr als elf Prozent der Zweitimpfungen nicht wie geplant stattfanden – 5,5 Prozent fielen komplett aus. Die Impflinge sind trotz gebuchter Zweitimpftermine einfach nicht zu Ihrer Impfung erschienen.
„Wer den zweiten Impftermin ausfallen lässt, gefährdet sich und seine Umgebung, weil die Wahrscheinlichkeit einer Infektion erhöht wird“, warnt Gesundheitsministerin Petra Köpping (SPD). „Wer denkt, er kann sich seine zweite Impfung im Herbst holen, wenn es nötig ist, der täuscht sich, denn er ist bis dahin vor allem gegen eine Infektion mit der Delta-Variante relativ ungeschützt.“ Köpping appelliert „eindringlich“ an die Menschen, sich die zweite Impfung geben zu lassen. „Wir dürfen keine Termine ausfallen lassen.“
Die schon fast flehenden Worte haben ihren Grund: Impfskepsis, Verschwörungsdenken und Regierungskritik sind einer repräsentativen Umfrage des Mercator Forums Migration und Demokratie an der Technischen Universität Dresden zufolge in Sachsen stark verbreitet. Der Anteil der impfskeptischen Personen im Freistaat liegt über dem Bundesdurchschnitt, nämlich bei 21 Prozent.
[Lesen Sie hier: „Fake“ vom Amt – Berliner Gesundheitsverwaltung sagt Impftermine ab, die gar nicht ausfallen sollten (T+)]
Wesentlich besser sieht die Situation in Hamburg oder in Baden-Württemberg aus. In der Hansestadt können die Verantwortlichen nicht beobachten, dass Impftermine in deutlich zunehmenden Maß ausfallen. Auch im Ländle ist der Anteil abgesagter Impftermine „relativ gering“.
In Niedersachsen liegt die „No-Show-Rate“ bei vier Prozent, eine „wesentliche Steigerung“ sei nicht festzustellen. In Schleswig-Holstein liegt die Quote bei 3,3 Prozent. Als Spitzenreiter bei der Auslastung der Piks-Termine in den Impfzentren erscheint Berlin: Laut Senatsverwaltung wurden zwar 19 Prozent verschoben. Aber nur zwei Prozent sind überhaupt nicht erschienen.
Deutlich höher ist die Quote im Umland. In Brandenburg liegt sie bei fünf Prozent.
Als Gründe vermutet das Gesundheitsministerium:
- der Wunsch, sich in vertrauter Umgebung vom eigenen Hausarzt impfen zu lassen
- Sinkende Inzidenzen und Lockerungen der Maßnahmen
- die Hitzewelle der vergangenen Tage
Gesundheitsministerin Ursula Nonnemacher (Grüne) schlägt daher vor, besonders Jugendliche mit niederschwelligen Impfangeboten zu erreichen. „Impfen im Zelt, auf dem Dorfplatz oder im Stadtteil“, schlägt sie im Gespräch mit dieser Zeitung vor. Sie appelliert an die Jüngeren, „die vielleicht denken: „Jetzt ist endlich Partytime.“