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Ab Dienstag wird hier gebaggert: Das Gelände des künftigen Tiefbahnhofs von Stuttgart 21
© dpa

Bahnprojekt S21: Stuttgart gräbt weiter - im Erdreich und in Akten

Am Dienstag beginnen die Bauarbeiten zum Herzstück von Stuttgart 21. Gleichzeitig weiten sich die Untersuchungen von Gerichten und Parlament immer weiter aus. Jetzt will auch die EU-Kommission ermitteln - wegen angeblich zu hoher Zuschüsse der früheren Landesregierung.

Feierlich zelebrierte Baustarts hat es in der langen Geschichte des Bahnprojekts Stuttgart 21 schon viele gegeben. Bereits im Februar 2010 versetzte Bahnchef Rüdiger Grube in der baden-württembergischen Landeshauptstadt mit großem Tamtam symbolträchtig einen Prellbock. Erst kürzlich ist der längste Tunnel des Projekts, zu dem auch der Bau einer neuen ICE-Trasse nach Ulm gehört, feierlich getauft worden. An diesem Dienstag nun beginnen die Bauarbeiten am Herzstück von Stuttgart 21, Bagger sollen die erste Grube für den künftigen Tiefbahnhof graben. Auf einen Festakt aber verzichtet die Bahn diesmal – gebaggert wird jetzt auf der Fläche, die am 30. September 2010 in einem blutigen Polizeieinsatz mit Wasserwerfern und mindestens 163 Verletzten geräumt wurde.
Ungeachtet des Verzichts auf eine Feier wollen die „Parkschützer“ am Dienstag protestieren. Es ist die vielleicht letzte Gelegenheit, noch einmal in größerem Stil gegen das Milliardenprojekt, das bis 2021 fertig werden soll, mobil zu machen. Zehntausende aber, wie zu den Hochzeiten des Widerstands werden nicht mehr auf der Straße erwartet. Dazu hat Stuttgart 21 schon zu viel überstanden: Preisexplosionen, Massenproteste, Schlichtungsverfahren, Stresstest, Regierungswechsel, Volksabstimmung.

Immer neue Ermittlungsverfahren

Doch so viel die Bagger auch buddeln, die Vergangenheit lässt sich nicht so einfach abtragen und abtransportieren wie die Erde im Schlossgarten. Der überharte Polizeieinsatz vor nunmehr fast vier Jahren treibt noch immer viele um. Opfer wie den erblindeten Dietrich Wagner, dessen Foto mit blutigen Augen damals um die Welt ging. Aber auch Politik, Polizei und Justiz. Der „Schwarze Donnerstag“ beschäftigt einen zweiten Untersuchungsausschuss und die Gerichte. Das Landtagsgremium geht erneut der Frage nach, ob nicht doch der damalige Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) die Verantwortung für den Einsatz trägt. Vor dem Landgericht Stuttgart sitzen zwei Polizeibeamte auf der Anklagebank, denen im Zusammenhang mit den Wasserwerfereinsätzen fahrlässige Körperverletzung im Amt vorgeworfen wird; Dietrich Wagner ist einer der Nebenkläger.

Je tiefer in der Vergangenheit gegraben wird, umso mehr Ungereimtheiten kommen zutage. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart kommt mit der Eröffnung immer neuer Ermittlungsverfahren kaum noch nach. Sie verdächtigt Ex-Regierungschef Stefan Mappus (CDU) der Falschaussage vor dem ersten S-21-Untersuchungsausschuss, ebenso den damaligen Landespolizeipräsidenten Wolf-Dieter Hammann und einen Amtschef der damaligen CDU/FDP-Regierung. Gegen den Einsatzleiter, den damaligen Stuttgarter Polizeipräsidenten Siegfried Stumpf, ermitteln die Staatsanwälte wegen des Verdachts der fahrlässigen Körperverletzung im Amt. Er soll seine Kräfte nicht davon abgehalten haben, am 30. September 2010 mit den Wasserwerfern auf Köpfe von Demonstranten gezielt zu haben.

Polizeichef: Mappus griff ein - aber nicht am "Schwarzen Donnerstag"

Den Kampf um den Weiterbau von S 21 dürften die Gegner spätestens mit der Volksabstimmung Ende 2011 verloren haben. In der Auseinandersetzung um die Interpretation des Schlossgarten-Einsatzes aber machen sie zunehmend Boden gut. Im Fokus steht weiter Stefan Mappus. „Es war immer mein Grundsatz, dass sich die Politik nicht operativ in die Arbeit der Polizei einzumischen hat“, hatte der CDU-Politiker Ende 2010 vor dem ersten S-21-Ausschuss ausgesagt.

Im Abschlussbericht des Gremiums vom Februar 2011 hatten ihm die damaligen Mehrheitsfraktionen von CDU und FDP kurz vor der Landtagswahl Ende März 2011 in dieser Frage denn auch ihre Absolution erteilt. Im neuen Ausschuss indes stellt sich die Lage für Mappus weniger vorteilhaft dar. Vor dem Gremium hat Stumpf kürzlich erstmals eingeräumt, dass Mappus auf einen Einsatz Einfluss genommen habe. Nicht auf das Vorgehen am 30. September 2010, den Untersuchungsgegenstand, sondern auf einen Einsatz am 17. August 2010. Am Vorabend hatte Winfried Kretschmann, der grüne Fraktionschef, der sich im Zuge des Proteststurms zu Mappus’ Hauptgegner entwickelte, einen Baustopp und neue Verhandlungen gefordert. Die Bahn aber drängte, um Fakten zu schaffen, auf den Abriss des Nordflügels des Bahnhofs. Sie forderte Polizeischutz für den nächsten Tag, um dafür einen Bagger aufs Gelände zu bekommen. Stumpf lehnte mit Verweis auf die aufgeheizte Stimmung ab. Daraufhin habe ihm der damalige Landespolizeipräsident die Direktive erteilt, den Einsatz doch zu fahren – der Regierungschef wolle das so. „Er hat Weisung erteilt – trotz unserer Vorbehalte“, sagt Stumpf mit Blick auf Mappus unmissverständlich. Um eine Bewertung windet er sich: Ob das nun eine „politische“ Einflussnahme gewesen sei, könnten Abgeordnete besser entscheiden. Mit dem 30. September, dabei bleibt Stumpf, habe die Bagger-Geschichte nichts zu tun.

Ärger um Sicherungskopien von Mails

Das jedoch bezweifeln die Obleute von Grünen und SPD im Ausschuss, Uli Sckerl und Sascha Binder. Es stehe nun fest, dass Mappus auf den Bagger-Einsatz Mitte August 2010 „und damit allgemein auf die Polizeitaktik“ Einfluss genommen habe, so Sckerl. „Herr Mappus muss jetzt die Frage beantworten, ob er seine Aussage aufrecht erhalten kann, er habe keinen politischen Einfluss auf S-21-Einsätze genommen“, fordert Binder. Der Ausschuss wird Mappus deshalb erneut laden. Auch Stumpf, sagt Sckerl, müsse noch einmal in den Zeugenstand. „Die Frage, warum der auch polizeiintern umstrittene Einsatz am 30. September nicht abgebrochen wurde, wird immer drängender.“ Bis weit ins Jahr 2015 hinein hat der Ausschuss bereits weitere Sitzungen terminiert. Für Grüne wie SPD ist das Wühlen in der Vergangenheit auch eine Möglichkeit, bis zur Landtagswahl im März 2016 die Erinnerung an ein dunkles Kapitel von Mappus’ Kurzzeitregentschaft wach zu halten – und so die CDU insgesamt zu diskreditieren.

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So sieht es jedenfalls der CDU-Obmann, Reinhard Löffler. Nach der Sommerpause will er die Einstellung des Ausschusses beantragen. Er stützt sich auf Staatsrechtler wie den Würzburger Juristen Martin Reinhardt, der die Einsetzung dieses zweiten Ausschusses für „evident verfassungswidrig“ hält: Die Grenzen für eine neue Regierung, das Handeln und insbesondere die interne Willensbildung der Vorgängerregierung zu durchleuchten, seien eng begrenzt. Grün-Rot pervertiere die Funktion des als Instrument der Opposition zur Kontrolle der Regierung gedachten Untersuchungsausschuss zur „parteipolitisch motivierten Agitation gegen die Opposition“.
Wie weit das Interesse gehen darf, ist auch Gegenstand eines Rechtsstreits, den Mappus vor dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg ausficht. Er fordert, dass alte E-Mails aus seiner Amtszeit endgültig vernichtet werden. Deren Originale hatte er beim Räumen seines Büros gelöscht. Aber ein IT-Mitarbeiter hatte ausgerechnet im heißen Protestherbst 2010 Sicherungskopien erstellt, um einen Fehler in Mappus’ Computer zu finden. Da auch Kopien von E-Mails weiterer Schlüsselfiguren existieren, könnte das Urteil für den Ausschuss weitreichende Folgen haben.

Der Landesrechnungshof und Brüssel prüfen

Derweil zeichnet sich bereits das nächste Nachhutgefecht um Stuttgart 21 ab. Grünen-Verkehrsminister Winfried Hermann vermutet, dass die Vorgängerregierung 2003 mit der Bahn einen stark überdotierten Verkehrsvertrag abgeschlossen habe, um dem Unternehmen so indirekt das damals wacklige Projekt Stuttgart 21 schmackhafter zu machen. Der Landesrechnungshof prüft inzwischen den Vertrag. Auch die Europäische Kommission ist der Sache auf der Spur und will eine Untersuchung einleiten. Es wird also weiter gegraben werden in Stuttgart, auf dem Schlossgarten-Gelände, aber auch in alten Vermerken und Akten. Der Abraum aus dem Erdreich soll, wie am Wochenende bekannt wurde, übrigens künftig eine Böschung im Tagebuch im Südharz stützen.

Roland Muschel

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