Bundesverfassungsgericht: Studienplatzvergabe für Medizin teilweise verfassungswidrig
Wer Medizin studieren möchte, braucht ein gutes Abitur. Doch die Vergabe der Plätze ist zum Teil nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, wie nun entschieden wurde.
Sogar die Verteidiger der alten Ordnung mussten zugeben, dass es so wie bisher nicht weitergehen konnte. Max-Emanuel Geis, der Staatsrechtler der die für die Studienplatzvergabe zuständige Hochschulzulassung (SfH) vertritt, hatte die Verfassungsrichter bei der mündlichen Verhandlung Anfang Oktober aber gebeten, ihre alten Urteile zum Numerus clausus (NC) „maßvoll fortzuschreiben“. Das ist nun geschehen: Karlsruhe hält die Vergabe von Medizinstudienplätzen zwar für teilweise mit dem Grundgesetz unvereinbar. Am Prinzip des NC wird jedoch nicht gerüttelt.
Das Problem hatte das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen aufgeworfen und den Karlsruher Richtern zwei Fälle von Bewerbern vorgelegt, die keinen Studienplatz in Humanmedizin bekommen hatten. Denn auf jeden Studienplatz kommt hier eine Vielzahl von Bewerbern. Rund 60 000 rangeln um knapp 11 000 Plätze. Ein „Knappheitsproblem“, so hatte es der Vorsitzende des Ersten Senats und Gerichtsvizepräsident Ferdinand Kirchhof genannt, „das die berufliche Lebensplanung junger Menschen gravierend betrifft“.
In der Kritik stehen vor allem die Ortswünsche und der Notenvergleich
Das Auswahlsystem ist unter Bundesländern und Universitäten unterschiedlich, weist aber Gemeinsamkeiten auf, die nicht zuletzt den Urteilen des Verfassungsgerichts zum NC aus den siebziger Jahren zuzurechnen sind. Nach Abzug einer Vorabquote für Härtefälle oder ausländische Bewerber gehen 20 Prozent der Plätze an Abiturienten mit den besten Noten. 60 Prozent folgen einem Mix aus Abischnitt und Kriterien wie Auswahlgesprächen oder einschlägiger Ausbildung, diese Quote wird „Auswahlverfahren der Hochschulen“ genannt. 20 Prozent richten sich allein nach der Wartezeit.
Die Anforderungen sind hoch: In der Abiturbestenquote müssen Bewerber in der Regel eine 1,0 vorweisen, und auch im Auswahlverfahren der Hochschulen ist ein Abitur mit einer Eins vor dem Komma nötig. Die Wartezeit liegt aktuell bei mindestens 14 Semestern, also sieben Jahren. Die Folge: Viele gehen leer aus.
Die Richter beanstanden jetzt sowohl die Rahmengesetzgebung des Bundes wie auch der Ländergesetze und fordern ergänzende Regelungen. Die bisherige Situation verletze Bewerber in ihrem Recht auf gleiche Teilhabe am staatlichen Studienangebot. Im Wesentlichen geht es um diese fünf Punkte:
- Berücksichtigung von Ortswünschen in der Bestenquote. Bewerber mit Spitzen-Abitur müssen regelmäßig Ortswünsche für ihr Studium angeben. Sind die Kapazitäten an den Wunschorten ausgelastet, kann es sein, dass ein Kandidat nicht zum Zuge kommt, obwohl er mit einem anderen Ortswunsch hätte studieren können. Diese herausragende Gewichtung der Ortsangaben ist nach Ansicht der Richter unzulässig.
- Berücksichtigung von Ortwünschen im Auswahlverfahren der Hochschulen. Hochschulen hätten hier ebenfalls die Freiheit, Ortswünschen zu viel Gewicht zu geben. Es drohe damit eine ähnliche Falle wie bei der Bestenquote. Den Ortswunsch dürften Unis nur berücksichtigen, wenn sie aufwendige Auswahlgespräche planen, aber keinesfalls bei allen Studienplätzen.
- Vergleichbarkeit der Abi-Noten. Unter den Ländern gibt es erhebliche Schwankungen beim Abi-Schnitt. Bei ihrem Auswahlverfahren verzichten die Hochschulen bislang vielfach auf eine angemessene Verrechnung. Einen solchen „Ausgleichsmechanismus“ fordern die Richter jetzt ein.
- Neue Auswahlkriterien. Das Abitur kann nicht alles sein, meinen die Richter. Der Gesetzgeber müsse sicherstellen, dass neben der Note mindestens ein Kriterium in das Auswahlverfahren der Unis aufgenommen wird, anhand dessen die Eignung bestimmt werden kann. Aktuell ist das nicht verpflichtend. Wie es konkret aussehen soll, lassen die Richter offen. Nur darf es nicht „schulnotenbasiert“ sein. Bei Eignungsprüfungen und Auswahlgesprächen müsse der Gesetzgeber für „standardisierte und strukturierte“ Verfahren Sorge tragen. Andere bisher herangezogene Kriterien – wie die Berufsausbildung oder in der Oberstufe belegte Naturwissenschaftskurse – halten die Karlsruher Richter ebenfalls für zulässig.
- Begrenzung der Wartezeit. Innerhalb der Wartezeitquote war es theoretisch möglich, sich noch nach vielen Jahren um ein Studium zu bewerben – häufig mit mäßigem Erfolg. Das soll es künftig nicht mehr geben. Die Wartedauer müsse künftig begrenzt werden.
Die Abiturnote bleibt das wichtigste Kriterium
Insgesamt wird sich das Studium also auch etwas für Bewerber öffnen, die keine herausragenden schulischen Leistungen vorweisen können. Allerdings bleibt die Abinote das Schwerpunktkriterium. Christian Pestalozza, Staatsrechtler an der Freien Universität, erwartet, dass es zu einem „Trend zu einer Vereinheitlichung“ bei den teilweise sehr unterschiedlich gestalteten Auswahlverfahren kommt – auch wenn das Urteil Hochschulen und Ländern „Spielräume“ lasse.
Was aber ist mit der Zahl der Studienplätze, also der großen Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage? Wer gehofft hat, die Verfassungsrichter würden hier einen Auftrag an die Politik formulieren, mehr Plätze einzurichten, wurde enttäuscht. Diese Entscheidung liege allein beim „demokratisch legitimierten Gesetzgeber“, heißt es im Urteil. Gleichwohl kamen von Interessensverbänden Forderungen, auch vom Marburger Bund: Ein Kapazitätsausbau sei auch „versorgungspolitisch geboten“ – wegen des demografischen Wandels und der Ruhestandswelle unter Ärzten. Adelheid Kuhlmey, Vizeprodekanin für Studium und Lehre der Charité, wünscht sich eine „gute Bedarfsanalyse“, wie viele Ärztinnen und Ärzte das Land künftig braucht: „Es darf nicht sein, dass wir ein ähnliches Dilemma wie derzeit bei den Lehrern erleben.“
"Anlass, den Masterplan Medizinstudium 2020 grundsätzlich anzufassen"
Das „politische Versäumnis“, den Ausbau der Studienplatzkapazitäten bislang nicht geregelt zu haben, sieht Daniela De Ridder, Hochschul- und Medizinexpertin der SPD-Bundestagsfraktion, bei Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe und Bildungsministerin Johanna Wanka (beide CDU). Dass der Ausbau in dem im März von Bund und Ländern beschlossenen Masterplan Medizinstudium 2020 fehle, sei nur eine der „Auslassungssünden“ des Reformwerks. Das Karlsruher Urteil müsse Anlass sein, den Masterplan „noch einmal grundsätzlich anzupacken“.
Der geschäftsführende Gesundheitsminister Gröhe nannte das Urteil unterdessen "ein wichtiges Signal für einen chancengleichen Zugang zum Medizinstudium in allen Bundesländern". Neben den Auswahlkriterien bei der Zulassung zum Medizinstudium müsse es nun auch darum gehen, die Zahl der Medizinstudienplätze zu erhöhen. Er begrüße es, dass einige Bundesländer bereits angekündigt haben, das Studienplatzangebot auszuweiten, teilte Gröhe mit.
Bei den zusätzlichen Zulassungskriterien stimmen das Karlsruher Urteil und der Masterplan weitgehend überein. Das Urteil fordert mindestens ein, der Masterplan mindestens zwei Kriterien, nämlich „soziale, kommunikative Kompetenzen und eine besondere Motivation für das Medizinstudium“. Bei der Frage, wie die Auswahl zu gestalten sei, würden die Hochschulen allerdings bisher allein gelassen, kritisiert De Ridder. Hier fordere das Bundesverfassungsgericht zu Recht einheitliche und gerichtsfeste Lösungen.
Welche Konsequenzen das Karlsruher Urteil auf den Masterplan haben wird, müsse nun in der Kultusministerkonferenz in Ruhe analysiert werden, sagte Berlins Staatssekretär Steffen Krach. „Ein einfaches Weiter so wird es jedenfalls bei der Zulassung nicht geben.“
Auch für andere NC-Fächer könnte sich das Urteil auswirken
Nun ist die Medizin nicht das einzige Fach, das mit einem Numerus Clausus versehen ist. Drei weitere – Tiermedizin, Zahnmedizin und Pharmazie – werden wie die Humanmedizin bundesweit vergeben, bei rund 40 Prozent gibt es einen lokalen NC. Der Staatsrechtler Christian Pestalozza glaubt, das Urteil „könnte weitere Wellen schlagen“: Länder und Hochschulen würden es sicher auf verallgemeinernde Aussagen prüfen und das dann auch für andere NC-Fächer umsetzen.
Die Karlsruher Richter geben dem Gesetzgeber für die Medizin jedenfalls Zeit, bis Ende 2019 neue Regelungen zu erlassen, die den Anforderungen auf Bundes- und Landesebene gerecht werden. Bis dahin gilt das bestehende Recht fort, trotz seiner teilweisen Unvereinbarkeit mit der Verfassung. Daher müssen Bewerber im Zweifel auch noch die nächsten beiden Jahre mit dem gegenwärtigen System der Platzvergabe zurechtkommen.
Den Leitartikel von Anja Kühne zum Karlsruher NC-Urteil lesen Sie hier.