Medizin: Heilpraktiker – Gefahr oder Segen?
Heilpraktiker unterhalten sich lange mit Patienten – die fühlen sich wohl. Die Schulmedizin kritisiert: Heilsame Therapien werden verschleppt oder verpasst.
Es war ein Fall, der Menschen in ganz Deutschland erschütterte. Im Sommer 2016 starben mehrere Krebspatienten, nachdem ein Heilpraktiker ihnen eine ungeprüfte Substanz gespritzt hatte. Der Fall hat eine Debatte angestoßen, in der Kritiker auch die Abschaffung des Berufsstands fordern.
Für die Rechtsmedizin sind die Ermittlungen schwierig. Um die Todesursache von mindestens drei Krebspatienten herauszufinden, ließ sie sogar neue Analysemethoden entwickeln. Als Ende Juli mehrere Patienten eines Heilpraktikers aus Brüggen-Bracht starben und weitere teils im Krankenhaus behandelt werden mussten, lag der Verdacht nahe, dass dies mit der Behandlung durch den Alternativmediziner Klaus R. zu tun haben könnte. Er hatte ihnen die Substanz 3-Bromopyruvat gespritzt, die er als „Basistherapie“ für knapp 10 000 Euro auf seiner Homepage bewarb. Das Mittel sei „effektiver als heutige Chemotherapeutika“, erklärte er dort.
Auch zuvor standen Heilpraktiker regelmäßig in der Kritik – nicht nur wenn Patienten starben. Neben Ärzten sind sie ein weiterer Heilberuf, der weitreichende Freiheiten hat. Heilpraktiker dürfen eigenständig Diagnosen stellen und Therapien verordnen. Sie verschreiben nicht nur homöopathische Zuckerkügelchen und unterhalten sich lange mit ihren Patienten, wodurch viele sich gut aufgehoben fühlen – sondern schröpfen auch oder legen Infusionen. Wie Klaus R., gegen den seit nun August 2016 ermittelt wird.
Es gibt keine Kammern
Explizit verboten ist ihnen dabei nur wenig. Geburtshilfe dürfen Heilpraktiker nicht ausüben, keine Infektionskrankheiten behandeln und rezeptpflichtige Arzneimittel nicht verschreiben. Der Bundesgerichtshof stellte 1991 klar, dass sie wie auch Ärzte ihrer Sorgfaltspflicht nachkommen müssen. Doch gibt es weder Kammern – die wie bei Ärzten oder Apothekern über die Berufsausübung wachen – noch regelmäßig Kontrollen. Gesundheitsämter überprüfen die Arbeit von Heilpraktikern normalerweise nur nach Beschwerden von Patienten. Heilpraktikerverbände argumentieren, die Zahl der bekannten Zwischenfälle sei niedrig und Haftpflichtversicherungen verlangten geringe Summen. Doch trauen sich Patienten oft nicht, gegen ihren Heilpraktiker vorzugehen. Daher dürfte es eine erhebliche Dunkelziffer geben.
Nach den Todesfällen vom vergangenen Jahr riefen Gesundheitspolitiker aller Parteien nach Reformen. Die Grenze dessen, was für Heilpraktiker erlaubt ist, müsse klarer definiert werden, sagte der CDU-Gesundheitspolitiker und Vorsitzende des Ärzteverbandes Marburger Bund, Rudolf Henke. „Das ist, glaube ich, der Weg, den man gehen sollte“, erklärte er. Als „unfassbar“ bezeichnete SPD-Gesundheitsexperte Edgar Franke die mutmaßlichen Vorfälle, er ist auch Vorsitzender des Bundestags-Gesundheitsausschusses. „Das Heilpraktikergesetz muss überarbeitet und geschärft werden“, betonte Franke. Doch Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) legte nur minimale Änderungen am Heilpraktiker-Gesetz vor, das vor einem Jahr als Teil des Dritten Pflegestärkungsgesetz verabschiedet wurde: Bei dessen abschließender Lesung ging laut Bundestagsprotokoll keiner der Parlamentarier auf das Thema Heilpraktiker ein.
Daher kritisierte auch Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz das Gesetz als vollkommen ungenügend. Es sieht vor, dass die Prüfung zur Zulassung von Heilpraktikern ab Januar 2018 bundeseinheitlich gestaltet werden soll. Und während diese Überprüfung bislang ausschließen sollte, dass Heilpraktiker eine „Gefahr für die Volksgesundheit“ darstellen, soll zukünftig auch eine Gefahr für den einzelnen Patienten ausgeschlossen werden.
Unklar ist, auf welchem Wege der Schutz vor schwarzen Schafen unter Heilpraktikern verbessert werden kann. „Hierzu wäre ein verbindlicher Ausbildungsgang oder ein geregeltes Studium notwendig“, erklärte Brysch. Bislang ist keinerlei Ausbildung notwendig, Heilpraktiker können sich selbst auf den Multiple-Choice-Test sowie die mündliche Prüfung vorbereiten, die von Gesundheitsämtern abgenommen wird.
Doch worin sollen Heilpraktiker überhaupt ausgebildet werden? Für fast alle der von Heilpraktikern angewandten Therapien fehlt es an objektiven, geprüften Erkenntnissen. Der Berufsstand definiert sich und seine „Naturheilkunde“ geradezu dadurch, dass diese „grundsätzlich unabhängig von Zeitströmungen, Systemzwängen oder dem jeweils herrschenden Wissenschaftsbild“ sei, wie es der Dachverband Deutscher Heilpraktikerverbände formuliert.
So sagt die Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert von der Universität Münster, dass der Heilpraktikerberuf in seiner jetzigen Form nicht erhalten werden kann. Zusammen mit gut 20 Kollegen – darunter der Medizinrechtler Jochen Taupitz, ein früheres Mitglied des Deutschen Ethikrats, und der Gesundheitsforscher Norbert Schmacke – hat sie im „Münsteraner Memorandum“ einen sehr kritischen Blick auf den Berufsstand geworfen. Zwei Alternativen hat der Kreis um Schöne-Seifert ins Spiel gebracht: Entweder müssten Heilpraktiker eine wissenschaftsorientierte medizinische Ausbildung erhalten und ihre Kompetenzen auf nur einen Teilbereich der Medizin begrenzt werden. Oder der Beruf solle gar vollständig abgeschafft werden.
Zwar würden Patienten ihre Heilpraktiker aufgrund ausführlicher Gespräche sowie ihrer Zuwendung oft „lieben“, erklärte Schöne-Seifert kürzlich auf der Konferenz „Wissenswerte“ – während dies in der ärztlichen Behandlung auch aufgrund der zunehmenden Ökonomisierung immer mehr verloren gehe. Doch ein „Gebäude, das antiwissenschaftlich agitiert“ und eine „Parallelwelt in der Medizin“ darstellt, sei ein zu hoher Preis für derartige Wohlfühleffekte, kritisierte die Medizinethikerin.
Schäden durch aktives Tun, wie es dem Heilpraktiker aus Brüggen-Bracht vorgeworfen wird, seien dabei vermutlich nur ein kleines Problem. Doch würden wirksame Therapien oft „verzögert, verpasst und verschleppt“, kritisierte Schöne-Seifert. So steht derzeit in Bayern ein Heilpraktiker vor Gericht, der einer Krebspatientin homöopathische Präparate verkauft hatte. Laut Staatsanwaltschaft hätte die inzwischen verstorbene Mutter einer kleinen Tochter deutlich länger leben können, wenn sie nach dem Stand der Wissenschaft behandelt worden wäre.
Nach Ansicht von Verbandsvertretern wie Christian Wilms, Präsident des Fachverbands Deutscher Heilpraktiker, handelt es sich bei derartigen Tragödien nur um Einzelfälle. Doch auf obskure Techniken wie psychologische Astrologie, eine „Reinkarnationstherapie“ oder „Quantenheilung“ angesprochen, wollte er sich nicht distanzieren. „Die gesamte Breite der Medizin darf in unserem Beruf abgebildet werden, auch so etwas“, erklärte Wilms auf der Tagung. Verantwortungsvoll durchgeführt könne auch das eine Medizin sein, „die den Patientinnen und Patienten hilft, da bin ich mir sicher“, sagte der Heilpraktiker. Er als Verbandsvertreter würde solche Kollegen nicht ausschließen wollen. „Ich selber finde, dass so etwas zu einem Heilsystem in der Naturheilkunde gehört“, betonte Wilms.
Schöne-Seifert zeigte sich entsetzt. „Herr Wilms, wo kommen wir denn da hin“, erklärte sie. Wenn Patienten von Vertrauenspersonen zweifelhafte Erklärmuster präsentiert bekämen und daraufhin glaubten, „dass das wirklich funktioniert“, werde eine öffentliche Wissenschaftsfeindlichkeit geschaffen, die sie „für hochproblematisch“ halte, erklärte die Medizinethikerin.
Außerhalb geltender Standards
Es sei das „zentrale Merkmal des Heilpraktikerwesens“, außerhalb geltender Standards und allgemein anerkannter Wirksamkeitsmechanismen tätig werden zu dürfen, kritisierte auch der Deutsche Ärztetag dieses Jahr. Im Gespräch mit dem Tagesspiegel sprach sich Ärztechef Frank Ulrich Montgomery kürzlich für eine Abschaffung des Heilpraktikerberufs aus – oder zumindest für ein Verbot invasiver Tätigkeiten sowie der Krebsbehandlung. Montgomery wandte sich gleichfalls gegen die Aufwertung staatlicher Test. „Wenn die Prüfungsabsolventen dann das Pseudosiegel eines staatlich geprüften Heilpraktikers bekämen, hielten wir das für eine ganz grobe Patiententäuschung“, erklärte er. Die Bundesärztekammer hatte zuvor schon die vom Bundesgesundheitsministerium geplanten Leitlinien zur Heilpraktikerprüfung abgekanzelt. Diese seien „eine in jeder Hinsicht unzureichende Maßnahme zum Schutz der Bevölkerung oder gar einzelner Patienten vor möglichen Gesundheitsgefahren“, erklärten die Ärzte.
In einer Stellungnahme erklärte Heilpraktiker- Verbandschef Wilms, es sei „schade“, dass die Ärzte nicht den Dialog suchen würden – sondern sich dazu hergäben, „Pfründe“ zu sichern. Doch inzwischen hat offenbar auch Bundesgesundheitsminister Gröhe erkannt, dass er das Thema noch mal angehen muss: Während sein Haus bislang auf die vor einem Jahr beschlossenen Änderungen verwies, sieht es diese nun nur noch als erste Maßnahmen. „Weitere Schritte werden folgen müssen“, sagte ein Ministeriumssprecher dem Tagesspiegel.
Der Sprecher verweist auf den sogenannten „Masterplan Medizinstudium“. Mit dieser Reform der Ärzteausbildung will das Ministerium anscheinend auch die Kompetenzen zwischen den Berufen neu abstecken. „Zugleich sind die Bundesländer gefordert, ihre Aufsicht über die Berufsausübung zu intensivieren“, sagte der Sprecher unter Verweis auf die Zuständigkeit der Gesundheitsämter.
Der „Münsteraner Kreis“ um Schöne-Seifert will sich weiterhin mit Themen aus der komplementären und alternativen Medizin beschäftigen. Nachdem die Gruppe sich zunächst die Heilpraktiker vorgenommen hat, soll es nun um Humbug gehen, der von Ärzten ausgeht. „Unsere Arbeit geht massiv weiter“, erklärt die Medizinethikerin.
Hinnerk Feldwisch-Drentrup