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Ein Elektroauto lädt in Stuttgart an einer Stromtankstelle.
© Lino Mirgeler/dpa

Verkehrswende: Strom und Verkehr wachsen zusammen

Wie muss ein Stromnetz aussehen, das Millionen Elektroautos antreiben soll, fragt sich die Elektrotechnikerin und Wissenschaftlerin vom Reiner Lemoine Institut in ihrem Standpunkt.

Ich schreibe aus einer Außenperspektive, was das Thema Mobilität angeht. Ich bin Elektrotechnikerin und habe lange in der Energiewirtschaft gearbeitet. An der Mobilität interessiert mich aus beruflicher Sicht, welche Auswirkungen unsere Bedürfnisse in diesem Energiesektor auf das Stromsystem haben. Wenn ich auf Veranstaltungen zum Thema Elektromobilität bin, dann wundere ich mich oft über die unausgesprochenen Fragen im Raum. Auf Englisch würde man sagen: die Elefanten im Raum.

Da präsentiert der Entwicklungsingenieur eines großen deutschen Autoherstellers Ladekabelinnovationen, Apps für die intelligente Steuerung des Aufladens an der Steckdose und sinniert über E-Auto-Karosserien, die entweder um die Batterie herum geplant werden müssen oder über sie hinweg.

Im Publikum sitzt die Projektleiterin eines Netzbetreibers und fragt sich, wie sie das auf der Verteilnetzebene abbilden soll, wenn zukünftig alle Leute abends ihre Autos mit gekühlten Hochleistungsladekabeln aufladen – immerhin ist es ihr Job zu vermeiden, dass uns das Ortsnetz um die Ohren fliegt. Sie meldet sich also und erzählt von Pilotprojekten, in denen die Auswirkungen eines massiven Wallbox-Rollouts (zum schnellen zu-Hause-Laden) und des gleichzeitigen Ausbaus von Solaranlagen auf umliegenden Dächern untersucht wurden – denn beide Entwicklungen werden im Rahmen der Energiewende massiv auf uns zukommen. Und sie erzählt von den vielen offenen technischen Fragen, für die die Netzbetreiber bisher noch keine systematischen Lösungen haben.

Die Vertreter der Autoindustrie verweisen dann als Antwort auf ihre schlaue App: Wenn das Auto intelligent laden würde, dann wäre das doch sicher alles weniger problematisch? Nun, die App weiß zwar alles Mögliche über mein Mobilitätsverhalten, meinen Stromversorgungsvertrag und meine Lieblingssitztemperatur beim Losfahren, nur leider gar nichts über die aktuelle Auslastung des Ortsnetzes. Die Antwort ist also: Nein, eine App hilft nicht, wenn sie nur den Strompreis darüber entscheiden lässt, wann das Auto geladen wird. Die App benötigt auch Informationen darüber, wann das Laden oder Entladen eines Autos netzdienlich ist.

Zwei Systeme werden eins

Ein System, dessen Komponenten sinnvoll zusammenspielen sollen, braucht auch eine gemeinsame Entwicklung, oder zumindest ein Zusammendenken während der Entwicklung. Das gilt schon lange für unser Stromsystem aus Erzeugern, Netzen und Verbrauchern – immerhin liegen allen Szenarien zur Netzentwicklung oder zum geplanten Zubau Erneuerbarer Energien Annahmen über die Entwicklung all dieser Systemkomponenten zugrunde. Und die Mobilität ist keine Ausnahme: Auch hier wird es darum gehen, Lasten noch besser zu managen und einen netzdienlichen Einsatz zu entwickeln.

Wichtig ist aber zu berücksichtigen, wie viel Last durch Elektromobilität noch zusätzlich ins System kommt und auf welchen Netzebenen wir zukünftig diese Lasten anschließen werden. Nehmen wir einmal an, dass alle heutigen PKW im Jahr 2050 elektrisch fahren. Einigkeit herrscht in allen Studien über die folgende Auswirkung: Der Gesamtstrombedarf in Deutschland erhöht sich – am Reiner Lemoine Institut (RLI) rechnen wir mit mindestens 90 Terawattstunden zusätzlich. Das ist insofern unproblematisch, als dass wir gute, immer preiswerter werdende Techniken Techniken für erneuerbare Stromerzeugung haben. Schwierig wird es, wenn man bedenkt, dass wir schon heute in Konflikte beim Ausbau der Techniken geraten. Es wäre naiv zu glauben, dass man das Stromsystem ohne Veränderungen der anderen Sektoren planen und ausbauen kann.

Aus Autos werden Speicher, aus Strom wird Mobilität

Diese 90 Terawattstunden zusätzlich entsprechen übrigens einem Anstieg des Gesamtstrombedarfs um etwa 15 Prozent – also keine gigantische Erhöhung. Spannend wird es aber im Detail: Was machen diese Autos mit dem Stromsystem? Es spielt eine große Rolle, wie „intelligent“ diese Autos Strom aus dem Netz nehmen. Denn zusammengenommen ergeben sie einen riesigen Stromspeicher, und waren nicht genau Speicher diejenigen Komponenten, die in einem zukünftigen Stromsystem aus mehrheitlich erneuerbaren, das heißt fluktuierenden Einspeisern fehlen?

Richtig! Geht man davon aus, dass die E-Autos diese Eigenschaft geschickt ausspielen, dann braucht das Stromsystem zwar immer noch genau so viel zusätzlichen Strom für die Mobilität, der Zubau lässt sich aber mit deutlich weniger Speichern realisieren. Geht man dagegen davon aus, dass die Autos einfach mehrheitlich abends an die Steckdose angeschlossen und unflexibel geladen werden, verdoppelt sich der Speicherbedarf des Stromsystems. Diese Speicher würden Kosten verursachen, die entweder auf den Strombezugspreis oder die Netzentgelte niederschlagen. Wenn die E-Autos einen Teil davon übernehmen könnten, würden wir eine andere Infrastruktur aufbauen.

Erneuerbare mit oder ohne E-Mobilität

Auch der Ausbau der Erneuerbaren Energien sieht in den Zukunftsszenarien mit und ohne E-Mobilität anders aus. Gerade weil Speicher so teuer sind, wird derzeit in Offshore-Wind investiert – eigentlich eine teure Technik, aber mit einem etwas glatteren Erzeugungsprofil und ohne die typischen Flauten, die es bei der Onshore-Windkraft geben kann. In jedem Energieszenario für Deutschland mit einem hohen Grünstromanteil (damit meine ich 80 bis 100 Prozent) ist daher Offshore-Wind im hohen Maß vertreten. In unserem am RLI modellierten Szenario, das die 45 Millionen E-PKW im System berücksichtigt und annimmt, dass diese Autos rückspeisungsfähig sind (eine Eigenschaft, die auch unter dem Begriff bidirektionales Laden oder vehicle-to-grid bekannt ist), werden die Offshore-Mengen im Gesamtsystem plötzlich viel kleiner.

Kathrin Goldammer leitet das Reiner Lemoine Institut in Berlin.
Kathrin Goldammer leitet das Reiner Lemoine Institut in Berlin.
© RLI

Die preiswerte Photovoltaik kann diese Anlagen dann ersetzen. Sie speist zwar mit einem gänzlich anderen Profil Strom ein, als es zur Deckung der ganztäglichen Last notwendig wäre, aber das ergänzt sich ideal mit den E-Autos, die abends und über Nacht die verbleibenden Restkapazitäten ihrer Akkus ausspeisen können und dadurch das System bedienen. Das Ganze ist dann kundenfreundlich, wenn die intelligenten Apps und Ladesysteme eine gute Prognose unseres Mobilitätsbedarfs vornehmen und uns morgens weder mit einem unnötig viel noch zu wenig aufgeladenen Akku losschicken. Es ist aber erst dann netz-, das heißt systemdienlich, wenn auch Verteilnetzbedarfe berücksichtigt werden. Eine Eigenschaft übrigens, die in den meisten Energiesystemmodellen noch nicht implementiert ist.

Unabhängig von der Frage, ob im Jahr 2050 wirklich 45 Millionen E-Fahrzeuge auf den Straßen sein werden lohnt es sich, sich Gedanken über das Gesamtenergiesystem zu machen. An die Politik und Regulierungsbehörden adressiert bedeutet das, beschäftigt euch mit folgenden Fragen: In welchem Maße sind die derzeitigen Ausbaukorridore für Erneuerbare Energien passend, wenn auch noch die Sektorenkopplung hinzukommt? Welche Veränderungen und Investitionen sind nicht nur auf der Übertragungs-, sondern auch auf der Verteilnetzebene notwendig und wie regen wir sie durch geschickte politische Rahmenbedingungen an? Vertreterinnen und Vertreter aus Energiewirtschaft und der Automobilindustrie treffen inzwischen immer häufiger aufeinander und haben die Gelegenheit, jetzt über die Integration der E-Mobilität ins Energiesystem zu sprechen. Wenn bei diesen Gesprächen nicht nur die neuesten Technik-Gimmicks auf den Tisch kommen, sondern auch die großen Fragen von Ladeleistungsentwicklung, Flexibilität, Netzdienlichkeit und Co, dann wird die gesamte Energiewende davon profitieren.

Kathrin Goldammer leitet das Reiner Lemoine Institut in Berlin. Sie ist gelernte Elektrotechnikerin.

Der Standpunkt von Kathrin Goldammer ist am 2. Juni 2017 im Tagesspiegel-Politikbriefing Background Energie und Klima erstmals veröffentlicht worden.

Kathrin Goldammer

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