Führungswechsel bei der Heinrich-Böll-Stiftung: Streitbarer grüner Liberaler
Ralf Fücks hat die Stiftung der Grünen zum spannendsten parteipolitischen Think-Tank in Deutschland gemacht. Bleibt sie das nach seinem Abschied? Ein Kommentar.
Wissen die Grünen, was sie an Ralf Fücks haben - und was ihnen eventuell abhanden zu kommen droht, wenn er jetzt geht? Die Heinrich-Böll-Stiftung war in den vergangenen Jahren der interessanteste parteipolitische Think-Tank in Berlin. Gewiss, die Konrad-Adenauer-, Friedrich-Ebert-, Friedrich-Naumann- und die Rosa-Luxemburg-Stiftung tragen auch zur - gelegentlich kontroversen - Debatte in den mit ihnen befreundeten Parteien und in der Gesellschaft bei. Aber das läuft im Großen und Ganzen braver ab und ist enger am Weltbild ihrer jeweiligen Lager orientiert.
Demokratien brauchen Orte der Irritation
Ralf Fücks hat die Böll-Stiftung zum permanenten geistigen Unruheherd für die Grünen gemacht. Er selbst ist eine wandelnde moralische und politische Herausforderung für die "grüne Familie" und alles, was Mehrheiten dort für unabänderliche Gewissheiten halten.
Die Anerkennung dafür spiegelte sich darin, wer da alles zu seinem Abschied am Freitagabend ins Stiftungshaus in der Schumannstraße kam: Daniela Schadt, bis vor kurzem noch First Lady der Bundesrepublik; Stephan Steinlein, neuer Chef des Bundespräsidialamtes; Hans-Gert Pöttering, Vorsitzender der Adenauer-Stiftung und zuvor Präsident des Europäischen Parlaments; der Historiker Heinrich-August Winkler; Bundesbahnvorstand Ronald Pofalla; und selbstverständlich alles, was Rang und Namen hat bei den Grünen von Ko-Parteichef Cem Özdemir über die Europaabgeordnete Rebecca Harms und Bundestagsmitglieder, darunter Fücks Frau Marie-Luise Beck, bis zu Vertretern des linken Flügels wie Jürgen Trittin. Judith Holofernes sang ihr Loblied auf den Nichtsnutz und "Danke, ich hab schon".
Freiheit - auch bei der Verfolgung grüner Ziele
Wenn man Fücks' vielfältiges Denken und Handeln auf einen Begriff verengen muss und darf, dann ist es "Freiheit". Er ist mindestens so sehr ein Liberaler wie ein Grüner. Wenn die Grünen aus seiner Sicht ihr Grünsein über die Freiheit stellten, dann wurde er kämpferisch.
Um nur drei Beispiele herauszugreifen: Auch für gute Zwecke wie Klimaschutz, Nachhaltigkeit und Ökologie darf man niemals autoritäre Mittel einsetzen. Ein Denken, wie es im Bericht des Club of Rome "Die Grenzen des Wachstums" 1972 zum Ausdruck kam, nennt Fücks autoritär. Denn es "lief auf dreifache staatliche Kontrolle hinaus: Kontrolle der Produktion, Kontrolle des Konsums, Kontrolle der Reproduktion" - sozusagen "das chinesische System aus dem Glauben heraus, dass die freiheitliche Gesellschaft zu Verzicht nicht fähig ist". Fücks versucht seine Partei vom Glauben an staatliche Gängelung der Bürger abzuhalten, leider nicht immer mit Erfolg.
Sein langer Weg vom KBW zum Realo
Er hat ja, zweitens, selbst einen langen weg hinter sich: Mitglied des Kommunistischen Bunds Westdeutschland (KBW) in den 1970er Jahren; Ko-Parteichef der Grünen, die damals noch "Sprecher" hießen, und inzwischen überzeugter Realo, der die Partei in die Regierungsverantwortung führen wollte; Anfang der 1990er Jahre Mitglied der ersten rot-gelb-grünen Ampelkoalition in der Bundesrepublik, in Bremen; als Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz stolperte er dann freilich über die "Piepmatzaffäre", nachdem er eine als Gewerbegebiet vorgesehene Fläche ohne Rücksprache mit den Koalitionspartnern als Vogelschutzgebiet angemeldet hatte.
Zu dieser persönlichen Entwicklung zum Realo gehörte auch der Wandel seiner Einstellung zu internationalen Fragen und Militäreinsätzen - ein Wandel, den viele Grüne gar nicht oder langsamer oder nicht so weitgehend vollzogen.
Beinahe gestürzt: weil er den Afghanistan-Einsatz verteidigte
2010, Fücks war inzwischen Vorstand der Böll-Stiftung, wäre er fast gestürzt, als er sich - und das auch noch in der "Welt am Sonntag" - scharf gegen die Kritik der evangelischen Bischöfin Marion Käßmann am Bundeswehreinsatz in Afghanistan wandte und ihr vorwarf, mit "Banalitäten" zu argumentieren. Ihn ärgere besonders "die Unart, im Brustton der höheren Moral politische Handlungsanweisungen zu erteilen". Parteifreunde forderten seinen Rücktritt. Fücks überstand den Sturm.
Drittens erhob er verlässlich die Stimme, wenn er Antisemitismus, Antiisraelismus, Antiamerikanismus vernahm - der sich ja auch meist in eine Pose angeblicher moralischer Überlegenheit kleidet. Auch im Umgang mit der Sowjetunion und später mit Russland stand er im Zweifel fest auf der Seite der Freiheit - also der Dissidenten. Auch da war die Böll-Stiftung gewiss nicht einsam im Kreis der deutschen politischen Stiftungen, aber sie stach als moralisches Gewissen heraus und war für die eigene Partei, die Grünen ein Ort der Irritation.
Offener Blick für Putins Russland
Was Fücks in Konferenzen, Seminaren und Namensbeiträgen in Zeitungen konsequent anmahnte, richtete sich auch gegen eine gefühlte Mehrheitsstimmung in der Partei, die ihre Hauptkritik gerne gegen die USA gerichtet und bei den Defiziten in Putins Russland lieber zwei Augen zugedrückt hätte. Fücks sparte nicht mit Kritik an den USA. Aber ihm war immer bewusst, dass seine Freiheitsideale in Amerika weit mehr zu Hause sind als in Russland.
Welchen Gewinn an Freiheit der Sturz der Diktaturen in Mitteleuropa durch die friedliche Wende von 1989 bedeutet, hat Fücks bei seinem Abschied eindrucksvoll begründet. Er beschönigt nichts an den aktuellen Demokratiedefiziten, zum Beispiel in Polen und Ungarn. Aber, auch da ist er unbeirrbarer Optimist, mit Argumenten und liberalen Überzeugungen, wird Europa auch solche Abwege korrigieren.
Generationswechsel an der Spitze der Stiftung
Nun übernimmt Ellen Überschär das Amt in der Böll-Stiftung, das Fücks so sehr geprägt hat: eine Ostberlinerin, eine Theologin, eine jüngere Generation, ein anderer Stil. Was auch immer sie macht und wie auch immer sie ihre Aufgabe ausübt: Der Stiftung, der grünen Partei und Deutschland ist zu wünschen, dass Böll ein Synonym für diesen geistigen Unruheherd in der Think-Tank-Landschaft bleibt. Ein Ort der Irritation, gerade auch für Grüne. Erste Messlatten werden sein, wie die Stiftung 2018 mit dem Rückblick auf 1968 umgehen wird; welche Mischung aus staatlichen Vorgaben und Freiheit sie zum Erreichen grüner Kernziele empfiehlt; wie sie es mit Bundeswehreinsätzen zur Verteidigung von Menschenrechten hält; und wie sie auf die USA, Russland, Israel und die mitunter noch fragilen Demokratien bei Deutschlands östlichen Nachbarn blickt. Auch ein Ralf Fücks muss loslassen können. Aber er ist ja noch da, falls Ellen Überschär mal Rat braucht.