Der Verrat: Straches rätselhafte Nacht auf Ibiza
Eine verwanzte Finca, ein Treffen, ein Video – und die Erkenntnis: Heinz-Christian Strache würde sein Land an die Russen verscherbeln. Ein Absturz-Protokoll.
Es ist der frühe Samstagabend, als um 19.46 Uhr Sebastian Kurz in den Pressesaal des Bundeskanzleramts in Wien schreitet, beherrscht und bedächtig wie immer, sein sanftes Lächeln im Gesicht. Er legt die Hände ineinander, bevor er beginnt, es ist so etwas wie seine Version der Merkel-Raute: Er ist startklar. „Nachdem die letzten 24 Stunden an Dramatik kaum zu überbieten waren“ sagt er, „möchte ich gern mit Ihnen meine Einschätzung der Situation teilen.“
Sieben Minuten wird er reden, die wichtigste Botschaft fasst Österreichs Bundeskanzler in drei Worte: „Genug ist genug.“ Die Koalition seiner ÖVP mit der FPÖ ist vorbei, gescheitert nach anderthalb Jahren voller Aufreger und Skandale. Er habe all das ausgehalten, um das Land politisch voranzubringen, sagt Kurz. Aber das am Freitag publik gewordene Video, es war für ihn der eine Einzelfall zu viel. 19.53 Uhr sagt er, es werde Neuwahlen geben, zum schnellstmöglichen Zeitpunkt.
Sebastian Kurz sagt nicht, welche Ungeheuerlichkeit in diesen an Ungeheuerlichkeiten reichen Filmaufzeichnungen ihn zu dieser Entscheidung bewogen hat.
Vielleicht die: „Nemmer Strabag, Autobahnen“, sagt der Mann, dem zwei Wochen zuvor das Große Goldene Ehrenzeichen mit dem Stern für Verdienste um die Republik Österreich verliehen wurde, „du, das erste in einer Regierungsbeteiligung, was ich dir zusagen kann, ist: Der Haselsteiner kriegt keine Aufträge mehr. So, dann ham wir ein Riesenvolumen an infrastrukturellen Veränderungen.“
Die Strabag ist ein österreichischer Baukonzern, Haselsteiner heißt ihr langjähriger Chef, und der Mann, der diese Sätze Ende Juli 2017 sagt, ist der Parteichef der FPÖ, die bei der Parlamentswahl zweieinhalb Monate später das zweitbeste Ergebnis ihrer Geschichte erzielen wird. Wieder zwei Monate später wird er Österreichs Vizekanzler sein. Heinz-Christian Strache sagt: „Nochmal. Autobahn bin ich sofort dabei. Statt Haselsteiner jeden öffentlichen Auftrag abseits der Strabag.“
Strache erhält dann auch eine Antwort: „Es ist nicht der öffentliche Auftrag“, sagt die Frau, mit der er zusammensitzt und die ihm als Aljona Makarowa vorgestellt wurde, als angebliche Nichte von Igor Makarow, einem angeblichen russischen Oligarchen. „Der Punkt ist der Überpreis, der garantiert wird.“ Strache: „Noch einmal, beim staatlichen Auftrag hast du das.“
Er stellt ihr auch Österreichs Trinkwasser in Aussicht. „Wo wir das Wasser verkaufen“, sagt er, „wo der Staat eine Einnahme hat und derjenige, der das betreibt, genauso eine Einnahme hat.“ Man müsse sich dann zwar „um die Prozente streiten“, aber am Ende hätten sowohl der Staat als auch der Betreiber ihren Gewinn.
Wie ein Ex-Bodybuilder mit hängenden Schultern
Am Mittag dieses Sonnabends, dem 18. Mai 2019, tritt der Mann, ein Nationaler, ein Nationalist vielleicht mit rechtsextremer Vergangenheit, der ausweislich dieses Videos vor zwei Jahren bereit zu sein schien, Österreich an die Russen zu verscherbeln, in Wien vor die Presse. Er sagt: „Deshalb habe ich heute ein Gespräch mit dem Herrn Bundeskanzler Sebastian Kurz gehabt, wo ich meinen Rücktritt von der Funktion des Vizekanzlers der Republik Österreich angeboten habe und er diese Entscheidung annehmen wird.“ Auch als Parteichef werde er zurücktreten.
Seit dem frühen Morgen beobachten Journalisten Straches Amtssitz, Reporter werden in solchen Krisensituationen oft zu Wachposten, und sie vermelden: Zwei Männer tragen Bier in Straches Ministerium im Palais Dietrichstein am Minoritenplatz. Zutaten für eine Abschiedsparty, nicht für den politischen Überlebenskampf.
Mit geröteten Augen betritt Strache schließlich den Saal, in dem er seine Ansprache halten wird, nur ein dutzend Schritte sind es von seinem Büro mit der Nummer 204, aber eine riesige Distanz ist es zum Strache vom Januar 2017, als er bei der Vereidigung der Regierung seinen Oberkörper mit Luft aufpumpte, bis er aussah wie ein Ex-Bodybuilder. Es war Stolz, Genugtuung über seinen Weg vom verpönten Außenseiter zum zweitwichtigsten Politiker der Republik. Den Weg zurück tritt er mit hängenden Schultern an, lange blickt er sich um, holt noch einmal tief Luft, bevor er in die Mikrofone spricht. Ganz hinten in der Ecke, abseits vom Blickfeld der Kameras, weint eine Mitarbeiterin.
Die Worte, zu denen er greift, klingen nach dem alten HC, nicht nach dem Staatsmann Heinz-Christian Strache, den er in den letzten anderthalb Jahren gegeben hat. An diesem Sonnabend wehrt er sich wie ein angeschlagener Boxer, im verzweifelten Vorwärtsgang ohne Deckung: Einer „neuen Dimension der Verleumdung“ sei er aufgesessen, mit „einer Schmutzkübel-Kampagne, die an Perfidie und Niederträchtigkeit nicht zu übertreffen ist“. Es sind wilde Schwinger, aber seiner Stimme fehlt die gewohnte Kraft, sie verrät die Resignation.
Als er sich bei seiner Frau entschuldigt, droht sie gar wegzubrechen. „Falls du zusiehst, es tut mir leid, dass ich dich verletzt habe.“
Wer macht so etwas?
Straches Stellungnahme hatte mit diesem Satz begonnen: „Das Gerücht lag schon länger in der Luft, dass über das Ausland wahlbeeinflussendes Dirty Campaigning oder geheimdienstlich gesteuerte Aktionen zu befürchten sind.“
Wer macht so etwas? Wer bahnt – mit der Erfindung einer vielleicht sogar glaubhaften Legende und laut Strache „über Monate hinweg“ – ein Treffen mit ihm in einer verwanzten Finca auf Ibiza an? Wer bringt Strache dort dazu, sich anzuhören, dass eine nicht existierende Nichte eines nicht existierenden Oligarchen hunderte Millionen Euro in Österreich investieren will – worauf Strache ihr wiederum den Kauf von Anteilen am Zwei-Millionen-Leser-Blatt „Kronen Zeitung“ schmackhaft zu machen versucht, auf dass es fortan ihm gemäßer berichte.
Im Video sagt er: „Schau, wenn das Medium in zwei, drei Wochen vor der Wahl, wenn dieses Medium auf einmal uns pusht, dann hast du recht, dann machen wir nicht 27, dann machen wir 34“ Prozent. Und stellt der Frau als Gegenleistung schließlich die Staatsaufträge in Aussicht.
Geld spenden, ohne dass der Rechnungshof es erfährt
Strache erwähnt, wie Geld zur FPÖ-Finanzierung gespendet werden könne, ohne dass der Rechnungshof davon erfährt. Er nennt Namen angeblicher FPÖ-Großspender und sagt: „Die Spender, die wir haben, sind in der Regel Idealisten, die wollen Steuersenkungen.“ Betont dabei immer wieder, dass er nichts Rechtswidriges machen will.
Er nennt Namen von Leuten, die angeblich auch Bundeskanzler Sebastian Kurz’ ÖVP unterstützen. Seit Monaten wabert die Frage durch den politischen Raum, wie Kurz eigentlich seinen Wahlkampf finanziert hat. Zum Essen auf Ibiza gab es Seebarsch, Thunfisch und Sushi, zu trinken Champagner, Wodka und Red Bull.
Wer hat etwas davon, solch ein Video in seinem Besitz zu haben? Wer hat etwas davon, es nicht vor den damaligen Nationalratswahlen zu veröffentlichen, sondern zwei Jahre lang für sich zu behalten und es dann – vor Europawahlen – der Presse zu geben? Wofür ist das Video in der Zwischenzeit benutzt worden?
Für Europas Geheimdienste ist Österreich das Schmuddelkind
Die österreichische Zeitung „Die Presse“ schreibt, sie habe mit Geheimdienstlern gesprochen, und die „tippen auf eine Inszenierung eines westlichen Geheimdienstes“, immerhin ließe sich dafür ein Motiv konstruieren: Die Verbindungen der FPÖ nach Russland sind den Partnern unheimlich, die Partei kontrolliert über Innenminister Herbert Kickl und Verteidigungsminister Mario Kunasek alle drei Geheimdienste des Landes. Im „Berner Club“, einem informellen Zusammenschluss von Europas Geheimdiensten, wird Österreich wie ein Schmuddelkind behandelt: Wie die „New York Times“ berichtet, kursierte im Juli 2018 eine Fahndung nach einem russischen Agenten mit einem Vermerk: „Except Austria“ – an alle, außer Österreich.
Die Herkunft des Videomaterials, das der „Süddeutschen Zeitung“ und dem „Spiegel“ übergeben wurde – Kollegen der österreichischen Wochenzeitung „Falter“ konnten es vor der Veröffentlichung ansehen – kennen die Zeitungen und das Magazin nach eigenem Bekunden nicht. Im ORF sagt eine am Sichten der Filmaufnahmen beteiligte Journalistin der „Süddeutschen Zeitung“, es sei den Reportern vor einigen Wochen in „einem verlassenen Hotel“ auf USB-Sticks übergeben worden. Die Zeitung selbst schreibt: Die Übergabe war „dubios“.
Jan Böhmermann kannte das Video längst
Die Echtheit der Filme habe das Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie in Darmstadt geprüft, laut Gutachten handle es sich „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um authentisches Material“. Strache selbst zieht es ebenfalls nicht in Zweifel.
„Und ja, das war ein gezieltes politisches Attentat, eine Auftragsarbeit“, sagt er in seiner Stellungnahme, „und ich frage mich, wer diese Netzwerke sind und welche Rolle auch der Herr Böhmermann in diesem Zusammenhang spielt.“ Ein Satz, der zum Irrsinn der da vergangenen 18 Stunden passt.
Ja, auch der deutsche Satiriker Jan Böhmermann kannte das Video, offenbar schon seit Wochen. Das bestätigt sein Manager Peter Burtz der Nachrichtenagentur DPA. Er dementiert aber wiederum die Aussage einer „Süddeutsche Zeitung“-Journalistin, dass die Aufnahmen Böhmermann angeboten worden seien. Da sie ihm nicht angeboten worden seien, habe er sie auch nicht abgelehnt. Woher Böhmermann die Aufnahmen kannte, wisse er nicht, sagt der Manager.
Böhmermann kannte die Aufnahmen, ohne dass sie ihm angeboten worden seien und er sie folglich auch nicht habe ablehnen können. Das Worthickhack des Managers, das ihm wichtig zu sein scheint, klingt ein bisschen so, als sei das Video mal irgendwann im Fernsehen gelaufen.
Im Fernsehen indes lief Mitte April die „Romy“, die Verleihung des österreichischen Fernsehpreises. In einem Videogrußwort sagte Böhmermann, er hänge „gerade ziemlich zugekokst und Red-Bull-betankt mit ein paar FPÖ-Geschäftsfreunden in einer russischen Oligarchenvilla auf Ibiza“ rum und verhandle über die Übernahme der „Kronen Zeitung“. Aber darüber dürfe er „leider noch nicht reden“. In seiner eigenen Sendung, dem „Neo Magazin Royale“, machte er am Donnerstag eine weitere Andeutung. „Kann sein, dass morgen Österreich brennt.“
Wenn Strache oder sein Umfeld Fernsehen schauen, müssen sie also seit einem Monat gewusst haben, das jemand etwas weiß. Oder dass dieses Video überhaupt existiert.
Protest mit Jubelfeier-Charakter
Seit es am Freitagabend auftauchte, hat die gesamte österreichische Republik Puls. Wer sich für Politik interessiert, hängt quasi pausenlos am Smartphone und vor den Sondersendungen der Fernsehkanäle. Die Opposition, die seit Monaten immer donnerstags zur Demonstration mobilisiert, verabredet sich am Samstagmittag vor dem Bundeskanzleramt. Wenn Strache nach seinem Abtritt die Bürofenster geöffnet haben sollte, hat er ihre Trillerpfeifen hören können.
Nur rund 70 Meter sind es vom Amtssitz Straches zum Bundeskanzleramt am Heldenplatz, wo gegen 13 Uhr schon keine Fiaker mehr vorbei kommen – zu viele Menschen haben sich versammelt, ein Lautsprecherwagen hat sich positioniert, einige Demonstranten tanzen zu den Klängen von „Bella Ciao“ und zur neuen Hymne der Opposition: „We’re Going to Ibiza!“, einem 90er-Jahre-Hit der niederländischen Popband Vengaboys. Ein Mann schwenkt eine Antifa-Flagge, aber keine Spur vom schwarzen Block, es ist ein bunter Protest mit Jubelfeier-Charakter, junge SPÖler halten Schilder hoch: „Sebastian – Deine Regierung, Deine Verantwortung“.
Mitten auf der Straße improvisiert die Chefin der liberalen Partei Neos, Beate Meinl-Reisinger, eine Pressekonferenz. Sie fordert, was die Menge bis zum Nachmittag immer wieder ruft: „Neuwahlen!“
Am Samstag wird zudem bekannt, dass der deutsche Verfassungsschutz erhebliche Risiken in der nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit mit Österreich sehe. Die „Welt am Sonntag“ kündigt einen entsprechenden Bericht an. Hintergrund sei die Annahme, dass Österreich geheime Informationen, die es von Partnerländern wie Deutschland erhalte, missbräuchlich verwenden und womöglich an Russland weiterleiten könnte. In Wien warten die Demonstranten derweil darauf, dass ihr Bundeskanzler sich zu Wort meldet.