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Brigitte Bierlein, Bundeskanzlerin von Österreich
© Andy Wenzel/BUNDESKANZLERAMT/dpa

Österreich erlebt das „freie Spiel der Kräfte“: Sternstunde der Demokraten, Albtraum der Regierung

Nach der Strache-Affäre passiert in Österreich Ungewöhnliches: Die Abgeordneten bilden neue Allianzen und beschließen Gesetze an der Übergangsregierung vorbei.

Die Sommerferien haben in Wien vergangene Woche begonnen. Neun lange Wochen Auszeit gönnen die Österreicher traditionell ihren Kindern. Nun machen auch die Parlamentarier neun Wochen Sitzungspause, die sich die 183 Abgeordneten redlich verdient haben: Seit der Nationalrat am 27. Mai mit Stimmen von FPÖ, SPÖ und Liste Jetzt den Kanzler Sebastian Kurz per Misstrauensvotum in den vorzeitigen Wahlkampf schickte, haben sie die Gesetzbücher gefüllt wie deutsche Touristen die Brennerautobahn.

Gesetze beschlossen die Abgeordneten allein vergangene Woche an den letzten beiden Sitzungstagen vor der Sommerpause, darunter einige Aufreger: Das umkämpfte Rauchverbot in der Gastronomie kommt ab November, und Glyphosat wird ab Anfang 2020 aus dem Verkehr gezogen.

Ungewohnte Allianzen taten sich dabei auf, das Ende für die Zigarette in der Wirtsstube drückte eine übergroße Koalition aus SPÖ, ÖVP, Neos und Liste Jetzt gegen die FPÖ durch; das Aus für den Unkrautvernichter wiederum ein Bündnis aller Parteien gegen die ÖVP.

Möglich macht es das „freie Spiel der Kräfte“: Die Übergangsregierung von Kanzlerin Brigitte Bierlein und ihren Fachexperten verlegt sich bisher auf die Verwaltung der Staatsgeschäfte und überlässt die Gesetzgebung dem Parlament.

"Sammelsurium" im Parlament

Vor allem die SPÖ jubelt. Kein Wunder, war sie doch in den 17 Monaten der türkis-blauen Koalition von Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und dessen Vize Heinz-Christian Strache (FPÖ) zum Zuschauen von der Oppositionsbank verdammt. Die Regierung begegnete dem Nationalrat zudem mit unverhohlenem Desinteresse – eindrucksvoll präsentiert von Kurz-Intimus und Medienminister Gernot Blümel, der Mitte Mai nur auf Socken durch das Plenum schlenderte. Der Kanzler selbst vertiefte sich sogar bei der Debatte um seine Abwahl ins Handy, bis ihn ein Abgeordneter zur Ordnung rief.

So einfach ist das Rezept gegen Populismus. Eine handlungswillige und gestaltungsfähige Regierung, die sachlich fundierte Entscheidungen trifft. Unabhängig von internem Parteienproporz und Machtspielchen.

schreibt NutzerIn 2monitor

Das Image des Kurzzeit-Regierungschefs hat unter der Ibiza-Affäre gelitten, im sogenannten Vertrauensindex ist er zurückgefallen, überholt von Interims-Kanzlerin Bierlein. Könnte die Melange aus seriöser Expertenregierung und arbeitswütigem Parlament also verlockend für die Wähler sein?

Wer so denkt, dem empfiehlt Peter Filzmaier einen genaueren Blick. Der Professor der Donau-Uni in Krems ist so etwas wie der oberste Politikdeuter der Republik. Ihn stört es, wenn Kommentatoren von einer Sternstunde des Parlaments sprechen. Ohne den roten Faden eines Regierungsprogramms produziere der Nationalrat ein „Sammelsurium“, dem schlimmstenfalls auch die handwerkliche Qualität fehle. „Husch-Pfusch“ nennt er den Murks, der bei zusammengeschusterten Gesetzen herauskommen kann.

Das muss keine böse Absicht sein, sagt Politologe Filzmaier. Den Abgeordneten in Österreich hilft kein Wissenschaftlicher Dienst wie im Deutschen Bundestag. Das Know-how, Gesetze zu formulieren und auszuarbeiten, sitzt vor allem in den Ministerien.

Ein Alptraum für jeden Finanzminister

Dann wäre da noch das liebe Geld. Unter anderem hat der Nationalrat das Pflegegeld und die Mindestrente erhöht, trotz des Appells von Interimsfinanzminister Eduard Müller an „Augenmaß und Verantwortungsgefühl“. Ein schneller Kassensturz ergab denn auch: Die jüngsten Beschlüsse kosten bis 2023 außerplanmäßig rund 1,1 Milliarden Euro. Das „freie Spiel der Kräfte“ mag eine Sternstunde für Demokraten sein, ist aber ein Albtraum für jeden Finanzminister. Einer, der bald vorbei ist, glaubt Peter Filzmaier.

Nach der Neuwahl am 29. September rechnet er mit einer regulären Koalitionsregierung. Nur noch einmal wird das Parlament aktiv, vier Tage vor der Wahl, bei der einzigen Sitzung nach der Sommerpause. Auf der Tagesordnung stehen mehr als 30 Gesetze. Schon jetzt ist die Rede von „Wahlzuckerln“, die den Bürgern ihre Entscheidung schmackhaft machen sollen und den Haushalt belasten. Aber das ist dann ein Problem für die nächste Regierung.

Christian Bartlau

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