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Eine Studie legt nahe, dass Judenhass abnimmt - doch daran gibt es Zweifel.
© dpa/Peter Steffen

"Mitte"-Studie der Uni Leipzig: Sterben die Antisemiten wirklich aus?

Die neue "Mitte-Studie scheint zu belegen, dass der Hass auf Juden in Deutschland abnimmt. Doch Volker Beck von den Grünen und auch die Verfasser der Untersuchung warnen vor voreiligen Schlüssen.

Es sind beunruhigende Zeiten: Steine und Brandsätze fliegen auf Asylbewerberheime, Ausländer werden angepöbelt und beschimpft, im Internet macht sich Fremdenhass breit während selbst ernannte Patrioten durch die Straßen marschieren und Rechtspopulisten Wahlerfolge feiern.

Menschen mit rechtsextremer Einstellung, zu diesem Schluss kommt die am Dienstag veröffentlichte "Mitte"-Studie der Universität Leipzig, sind immer häufiger dazu bereit, zur Umsetzung ihrer Interessen auch Gewalt anzuwenden. 

Politiker und Experten zeigen sich kritisch

Überraschend kommt indes der Befund der Leipziger Forscher, dass eine andere Form des Extremismus immer seltener wird: der Judenhass. In der Tendenz sei die Zustimmung zum Antisemitismus in Deutschland insgesamt rückläufig, heißt es in der Studie.

Seit 2002 sei der entsprechende Wert in Westdeutschland kontinuierlich auf nunmehr fünf Prozent gesunken, während er in Ostdeutschland - nach einem Anstieg im Zeitraum von 2008 bis 2012 – mittlerweile wieder auf dem Ausgangsniveau von 4,1 Prozent angelangt sei. „Antisemitische Vorurteile wurden phasenweise stärker mobilisiert als im Jahr 2016, ein Teil der Bevölkerung ist aber konstant bereit, diese zu äußern“, schreiben die Forscher.

Doch kann das wirklich sein, sterben die Antisemiten aus?

Der Grünen-Politiker Volker Beck ist vom Gegenteil überzeugt. Weil die Untersuchungs-Teilnehmer von den Leipzigern nur nach klassischen antisemitischen Überzeugungen, nicht aber zu antizionistischen Standpunkten befragt wurden, sieht der Bundestagsabgeordnete Beck die Teilergebnisse der Studie zum Antisemitismus kritisch.

In ihrer Gesamtheit sei es zwar eine "sehr gute" Studie und ihre Ergebnisse wertvoll, allerdings blende sie einen großen Teil des täglichen Antisemitismus im Land aus. "Manche meinen, Antizionismus sei die akzeptable und salonfähige Version des Antisemitismus. Das ist es nicht. Antizionismus ist wie jede Form des Antisemitismus inakzeptabel", sagt Beck. Von einer "rückläufigen Tendenz" könne man daher nicht sprechen.

Die Ausdrucksform hat sich geändert, der Antisemitismus ist geblieben

Auch Samuel Salzborn, Antisemitismusforscher an der Universität Göttingen, teilt die Annahme der Wissenschaftler aus Leipzig nur eingeschränkt.  Einen Rückgang von klassisch-antisemitischen Vorurteilen, wie sie von den Leipzigern abgefragt wurden, hält Salzborn zwar für möglich. Grundsätzlich würden völkisch-rassistische Ressentiments aber nur einen "sehr, sehr kleinen Anteil" im antisemitischen Spektrum ausmachen. "Die sozialwissenschaftlichen Antisemitismusforschung unterscheidet zwar zwischen einem religiösem, einem völkisch-rassistischen oder einem antiisraelischen Antisemitismus", sagt er.

Letztlich seien das aber nur Varianten eines Phänomens, das in seiner Substanz auf den gleichen antijüdischen Vorbehalten beruhe. "Beim Antisemitismus handelt es sich um ein Ressentiment, das sich in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder gewandelt hat. Doch nur weil sich die Ausdrucksform geändert hat, ist der Antisemitismus dadurch nicht verschwunden."

Andere Untersuchungen zum Thema kämen daher in regelmäßigen Abständen zum Schluss, dass antisemitische Überzeugungen in der deutschen Bevölkerung deutlich verbreiteter sind, als aus der Leipziger Studie hervorgeht.

Ein Fakt, der auch den Machern der aktuellen Studie aus Leipzig nicht entgangen ist. „Wir können in der Bevölkerung von einem antisemitischen Potenzial zwischen 20 bis 30 Prozent ausgehen“, sagt einer der Studienverfasser, Oliver Decker von Universität Leipzig.

Weil der Fokus der Untersuchung in diesem Jahr aber auf der Islamfeindlichkeit in Deutschland gelegen habe, hätten sich die Leipziger bei den Fragen zum Antisemitismus auf die klassischen Ressentiments beschränkt. „Unsere Studie darf deshalb aber keinesfalls als Entwarnung in Hinsicht auf den Antisemitismus in Deutschland gewertet werden“, warnt der Extremismusforscher.

Israel-Ablehnung weit verbreitet

Besonders häufig sind dabei anti-zionistische Ressentiments - also etwa Vergleiche der Politik Israels mit den Verbrechen der Nationalsozialisten oder das Abstreiten des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung. „Mit der Israel-Ablehnung verbindet sich oftmals eine Täter-Opfer-Umkehr: Wer Israel unterstellt, rassistisch zu agieren, kann damit die eigenen historischen Schuldgefühle ausblenden", sagt Salzborn.

Und diese Ressentiments finden sich nicht nur am rechten Rand unserer Gesellschaft. Im Gegenteil: Antisemitismus ist häufig der Ort, wo lechts und rinks sich treffen: Das zeigt eine Studie, die Salzborn bereits 2011 vorgelegt hatte. "Antisemitismus speist sich dort aus einer anti-imperialistischen Tradition, die ihren Ursprung in den K-Gruppen der 70er-Jahre findet", heißt es darin.

Neu sind diese Entwicklungen dabei nicht. Bereits 1969 warnte der Schriftsteller Jean Améry in einem viel beachteten Essay davor, dass sich in der politischen Linken der Antisemitismus manifestiert habe. "Das klassische Phänomen des Antisemitismus nimmt aktuelle Gestalt an. Die alte besteht weiter, das nenn ich mir Koexistenz", schrieb er verbittert.

Johannes C. Bockenheimer

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