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Der Attentäter von Halle wird wohl Jahrzehnte in Haft bleiben.
© Hendrik Schmidt / AFP
Update

Höchststrafe für Halle-Attentäter: Stephan Balliet attackiert im Gericht jüdischen Nebenkläger

Lebenslange Haft für den Halle-Attentäter. Der Rechtsextremist versuchte, eine Synagoge zu stürmen. Er ermordete zwei Menschen - Reue zeigt er nicht.

Der Attentäter von Halle wird wohl Jahrzehnte in Haft bleiben - das Urteil überrascht Nebenkläger, Zeugen und Prozessbeobachter am Montag kaum. Und doch sind einige von ihnen erleichtert, als das Oberlandesgericht (OLG) Naumburg den Angeklagten im Prozess um den rechtsextremen Anschlag auf die Synagoge in Halle zur Höchststrafe verurteilt: Lebenslange Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung für Stephan Balliet. Zudem erkennen die fünf Richter auf die besondere Schwere der Schuld – eine Haftentlassung nach 15 Jahren ist somit kaum möglich.

Das OLG, das aus Platz- und Sicherheitsgründen in der Landeshauptstadt Magdeburg tagte, spricht den Angeklagten des zweifachen Mordes, des versuchten Mordes in 60 Fällen sowie wegen Körperverletzung, räuberischer Erpressung und Volksverhetzung schuldig. Das Gericht folgt so den Forderungen des Generalbundesanwalts und zahlreicher Nebenkläger - auch wenn es, wie sich zeigen wird, durchaus Kritik an der Urteilsbegründung gibt.

Balliet reagiert am Montag zunächst mit ausdruckslosem Gesicht, ganz so wie er sich in den 25 Prozesstagen oft zeigte. Der 28 Jahre alte Rechtsextremist hatte zuvor verkündet, dass er mit der Höchststrafe rechne. Bis zuletzt gab sich Balliet als reueloser Antisemit zu erkennen, gefiel sich offenbar in rassistischen Ausfällen und verschwörungsideologischem Irrsinn.

Ursula Mertens, die Vorsitzende Richterin, nennt ihn „menschenverachtend und von einer Niedertracht geprägt, die ihresgleichen suchen muss“. Er habe „unermessliches Leid“ verursacht, als er in Kampfanzug am 9. Oktober 2019 mit Sprengstoff und Schusswaffen versuchte, in der Synagoge von Halle an der Saale ein Massaker anzurichten.

"Abgründe menschlichen Daseins"

Dort feierten 51 Männer, Frauen und Kinder den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur. Zum Angeklagten sagte Richterin Mertens: „Sie hatten bereits alle Hemmschwellen und alle menschlichen Züge abgelegt, bevor Sie Ihre Angriffsmontur angelegt hatten.“ Dem Attentäter gelang es nicht, in die Synagoge einzudringen – die massive Holztür hielt ihm stand. Balliet erschoss auf der Straße vor dem Gemeindehaus eine Passantin, die 40-jährige Jana L., raste dann in einem Auto durch Halles Paulusviertel. An einem Lokal, dem „Kiez-Döner“, stoppte der Attentäter, schoss in dem Imbiss auf Personal und Gäste. Balliet tötete den Maler-Lehrling Kevin S., der zu Mittag aß.

Seinen Mordzug filmte der Attentäter und streamte den Clip live ins Internet. Vor dem Döner-Lokal feuerte Balliet auf Passanten und Polizisten, raste schließlich verletzt und in beschädigtem Auto durch Halle, versuchte einen Mann aus Eritrea umzufahren, raubte – indem er auf ein Paar schoss – in einem Dorf ein Taxi. Erst nach einem Unfall wurde Balliet festgenommen. Er erklärte dem Gericht, er wollte Juden töten, Muslime als „Sekundärziele“.

An der Schwelle zu Halles Synagoge. Die Tür hielt den Schüssen stand.
An der Schwelle zu Halles Synagoge. Die Tür hielt den Schüssen stand.
© Hannes Heine

In ihrer fast dreistündigen Urteilsbegründung sagt Richterin Mertens: „Wir haben in 25 Verhandlungstagen in Abgründe des menschlichen Daseins geblickt.“ Auf die Frage, ob er Kinder töten würde, habe der Angeklagte geantwortet: „Natürlich, Kinder könnten ja später auch meine Feinde sein.“

Jana L., die in der Nähe wohnte, hatte den Attentäter vor der Synagoge noch zurechtgewiesen. Auf dem Tatvideo ist zu sehen, wie er fluchend am Gemeindehaus entlang läuft. Jana L. erkennt die Gefahr offenbar nicht. Nachdem der Rechtsterrorist einen selbstgebauten Sprengkörper zur Synagoge wirft, fragt sie: „Muss das sein, wo ich hier vorbeilaufe?“ Balliet erschießt Jana L. von hinten.

Im „Kiez-Döner“ feuerte Balliet auf die Gäste, er tötete Kevin S. gezielt. Der Junge war mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen geboren worden, die Familie kämpfte, ihr Sohn schloss die Schule ab, begann eine Ausbildung. S. wurde 20 Jahre alt, zum Gedenken an ihn trug der Vater vor Gericht ein Halstuch mit dem rot-weißen Logo des Fußballklubs Hallescher FC. Oft besuchte er mit seinem Sohn die Spiele des Vereins. Beide Eltern seien in psychologischer Behandlung, sagte der Vater, er habe an Suizid gedacht.

Der mordende Antisemit aus dem Kinderzimmer

Erkan Görgülü, der den Vater als Nebenkläger vertrat, sagte im Prozess: Kevin habe im Leben gekämpft, der Angeklagte nicht: „Stattdessen saßen Sie in Ihrem Kinderzimmer.“ Mit zur Tatzeit 27 Jahren lebte Balliet im Kinderzimmer der mütterlichen Wohnung in Benndorf, ein Ort mit circa 2000 Einwohnern. Bestimmte Internetforen nutzte er ständig, im analogen Leben des Mannes passierte hingegen wenig. Im Netz ging es dem späteren Mörder meist um „die Juden“, die für allerlei Übel verantwortlich seien.

Die Eltern und die Halbschwester des Angeklagten machten keine Aussagen vor Gericht. Letztlich blieb unklar, wie aus dem einsamen, unauffälligen Mann ein mordender Antisemit wurde. Balliet sei nur im Sinne des Gesetzes ein Alleintäter, sagt die Richterin, in Internetforen habe er Gleichgesinnte gefunden: „Viele haben sich vermutlich mitschuldig gemacht.“ Die eingesetzten Waffen baute Balliet nach Online-Anleitungen weitgehend selbst.

Zur von ihr angeordneten Sicherungsverwahrung nach der Haft führt Mertens aus: „Bei Ihnen haben wir den ungewöhnlichen Fall, dass Sie aus dem Nichts heraus diese gravierenden Straftaten in einer Stunde und 15 Minuten begangen haben.“ Doch der Angeklagte habe deutlich gemacht, dass er seinen „Kampf“ fortsetzen wolle.

Stephan Balliet wird nach dem Urteil aus Gericht zunächst zurück in die Haftanstalt Burg gebracht.
Stephan Balliet wird nach dem Urteil aus Gericht zunächst zurück in die Haftanstalt Burg gebracht.
© Ronny Hartmann/Reuters

Die Verteidigung des Angeklagten forderte kein konkretes Strafmaß, sondern ein „gerechtes Urteil“, ihr Mandant sei zumindest vermindert schuldfähig. Ein in solchen Prozessen übliches Gutachten hatte Stephan Balliet zwar eine komplexe Persönlichkeitsstörung, aber volle Schuldfähigkeit attestiert.

Am Ende der Sitzung wirft Balliet einen Notizhefter auf einen der Nebenkläger, der eine Kippa trug. Sofort packen Sicherheitsbeamte den gerade Verurteilten, führen Balliet ab. Seinem Anwalt zufolge ist noch offen, ob er Revision gegen das Urteil einlegen wird.

Die weltweit Aufsehen erregende Tat, die zahlreichen Zeugen, Nebenkläger und Reporter sowie die Coronavirus-Pandemie erforderten umfangreiche Sicherheitsvorkehrungen. Seit Juli wurden in dem Prozess 86 Zeugen und acht Gutachter gehört, 21 Anwälte vertraten die 45 Nebenkläger, zwei Verteidiger den Angeklagten.

Der Bundes-Opferbeauftragte, Edgar Franke, hofft, dass die Betroffenen das Geschehene nun besser verarbeiten können. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) zufolge ist das Urteil ein Beweis für die Wehrhaftigkeit des Rechtstaates. „Nicht selten erleben wir in der Justiz eine Sehschwäche auf dem rechten Auge“, sagt der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, am Montag. „Im Prozess gegen den Halle-Attentäter wurde hingegen genau hingesehen. Diese Haltung, nicht der Täter, sollte Nachahmer finden.“

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