Er stellt sich erneut als Bundespräsident zur Wahl: Steinmeiers Kalkül ist die Unsicherheit im Bundestag
Seine Chancen sind nicht berechenbar, aber er will noch einmal antreten. Durch Steinmeiers Schritt haben viele andere Akteure nun wenig Handlungsspielraum.
Das Bundespräsidialamt ist wohl eine der verlässlichsten Behörden, die es in Deutschland gibt. Die Pressestelle verschickt regelmäßig, berechenbar und rechtzeitig Termine des Staatsoberhaupts an die Medien und lädt zu den Auftritten, öffentlichen Gesprächen und Pressekonferenzen des Hausherrn.
Wenn die Pressestelle aber kurzfristig und ohne Nennung eines Themas zu einem Präsidenten-Statement lädt, kann es spannend werden. Das war so, als eine solche Einladung vor fast genau elf Jahren, am 31. Mai 2010, hinausging. Wenig später stand Horst Köhler vor der Pressetribüne im Schloss Bellevue und erklärte seinen Rücktritt – mit sofortiger Wirkung: „Es war mir eine Ehre, Deutschland als Bundespräsident zu dienen.“
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Auch am Freitag um 8.31 Uhr verschickte die Präsidialamtspressestelle eine Einladung zu einem Statement, ohne dessen Thema zu nennen. Da ahnten einige schon, dass sich Frank-Walter Steinmeier zu seiner Zukunft als Bundespräsident äußern würde.
So kam es dann zweieinhalb Stunden später auch. Überraschenderweise entschied sich der frühere Kanzleramtschef und Außenminister aber nicht etwa für die sichere Variante eines Verzichts auf eine zweite Amtszeit. Ganz im Gegenteil: Der 65-Jährige, der vielen im politischen Berlin eher als Zauderer gilt, wählte den Weg ins Freie und bewirbt sich nun darum, Deutschland noch weitere fünf Jahre als Staatsoberhaupt zu dienen.
Damit scheint der promovierte Jurist ein Risiko einzugehen, wenn die Bundesversammlung im Februar 2022 das nächste Staatsoberhaupt für fünf Jahre wählt. Denn niemand kann heute schon sagen, wie dort die Mehrheitsverhältnisse aussehen werden.
Ein Liberaler und ein Linker unterstützen eine zweite Amtszeit
Eine Bundestagswahl und mehrere Landtagswahlen stehen bis dahin an. „Ich weiß, dass ich nicht von vornherein auf eine Mehrheit in der Bundesversammlung bauen kann“, sagte Steinmeier. Aber er wolle durch seine frühzeitige Bewerbung für Klarheit sorgen – auch wenn er sich der Wiederwahl nicht sicher sein könne.
Auf die Unterstützung seiner eigenen Partei kann sich der frühere SPD-Fraktionschef natürlich verlassen – sowohl sein Nachnachfolger in dieser Funktion, Rolf Mützenich, als auch SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil lobten prompt seine Arbeit. Aber außerhalb der Welt der Sozialdemokraten haben sich bislang nur FDP-Chef Christian Lindner und der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Linkspartei für eine weitere Amtszeit von Schröders ehemaligem Kanzleramtschef ausgesprochen.
Dabei hat sich Steinmeier in seinem Amt seit seiner Wahl Anfang 2017 durchaus Anerkennung in der Politik erarbeitet, auch in vertraulichen Gesprächen gibt es kaum Kritik. Er ist keiner, dessen Auftritte viele Menschen spontan mitreißen, aber viele politische Akteure schätzen seine stetige Arbeit an der Verteidigung der parlamentarischen Demokratie gegen ihre Herausforderungen. Auch in der Corona-Pandemie wurde er zu einem eigenständigen Akteur – mit Videobotschaften an die Bürger oder dem Staatsakt für die Covid-Opfer, den er angeregt und durchgesetzt hatte.
Dass dies reicht, um noch einmal eine Mehrheit in der Bundesversammlung zu erringen, kann der Hausherr von Schloss Bellevue aber nicht erwarten. Parteien verfolgen auch bei der Wahl des Staatsoberhaupts eigene Interessen. Vor vier Jahren setzte er sich nur deshalb durch, weil der Union mit Marianne Birthler die eigene Kandidatin absprang.
Steinmeiers Vorteil, und womöglich auch sein Kalkül bei der Entscheidung, vier Monate vor dem 26. September Klarheit zu schaffen: Die Unsicherheit über den Ausgang der Bundestagswahl legt den Akteuren, die über ihn entscheiden werden, Fesseln an. Sie können ohne kalkulierbare Machtbasis schwer Koalitionen zur Wahl einer anderen Kandidatin oder eines anderen Kandidaten schmieden und sich erst recht nicht öffentlich gegen ihn stellen. Erst nach der Bundestagswahl steht die Zusammensetzung der Bundesversammlung fest.
Wichtige Akteure bekundeten Steinmeier am Freitag ihre Achtung. „Ich zolle dieser Entscheidung meinen Respekt“, sagte Unions-Kanzlerkandidat und CDU-Chef Armin Laschet, den das Staatsoberhaupt zuvor in einem persönlichen Gespräch über seine Entscheidung informiert hatte. Damit ermögliche er es, „dass dieses Thema nicht in den Bundestagswahlkampf hineingezogen wird“. Er freue sich auf eine weitere vertrauensvolle Zusammenarbeit.
Auch CSU-Chef Markus Söder sprach von Respekt und nannte die Zusammenarbeit mit Steinmeier „sehr gut und vertrauensvoll“. Wie Laschet wies er darauf hin, dass die „Entscheidung und Festlegung“ erst nach der Bundestagswahl anstehe.
Es gibt durchaus Argumente, die Steinmeier fürchten muss: Da sind Wünsche aus der Union, bei der Besetzung des höchsten Amtes wieder zum Zuge zu kommen. Bei der Bundestagswahl gestärkte Grünen könnten auch Ansprüche anmelden. Dem baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt werden Ambitionen nachgesagt. Schließlich ist da noch die Forderung, dass nach dann 73 Jahren endlich einmal eine Frau Deutschland repräsentieren möge.
Nach der Bundestagswahl werden wahrscheinlich monatelange Koalitionsverhandlungen nötig sein, bis die Statik der künftigen Republik stabil ist, in der ein Staatsoberhaupt seinen Platz finden muss. Auch das ist ein Vorteil für Steinmeier: Nach einem Regierungswechsel könnte kurz vor der Bundespräsidentenwahl das Argument der Kontinuität gegenüber anderen an Gewicht gewinnen.