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Sergio Mattarella und Frank-Walter Steinmeier
© REUTERS

Gedenken an NS-Opfer in Italien: Steinmeiers Geste der Versöhnung

Der Bundespräsident gedenkt in Fivizzano Opfer deutscher Kriegsverbrechen. Das Gedenken der in Deutschland kaum bekannten Massaker war nicht nur seine Idee.

Es ist gegen neun Uhr, als die Mörder an diesem Vormittag kommen. Die Einwohner des Orts San Terenzo-Monti in den Bergen rund 30 Kilometer nördlich der italienischen Stadt La Spezia hören die Wagen, mit denen die 16. SS-Panzer-Grenadier-Division „Reichsführer SS“ ihre Gehöfte einkreist. Viele Menschen geraten an diesem 19. August 1944 in Panik. In der Region der Gemeinde Fivizzano sind schon Zivilisten ermordet worden.

Weil Partisanen Tage zuvor 16 Soldaten der Waffen-SS getötet haben, hat SS-Sturmbannführer Walter Reder Rache befohlen – für jeden getöteten Deutschen sollen zehn Italiener sterben. 53 Geiseln haben seine Männer aus Sant Anna de Stazzema mitgebracht, nun treiben sie noch 107 Zivilisten zusammen, bringen ihre Opfer zu einem Gehöft namens Valla. Kaum haben sie zwei Maschinengewehre aufgebaut, beginnt das Schießen. Ihr jüngstes Opfer ist gerade zwei Monate alt, ihr ältestes 80 Jahre.

75 Jahre später steht Frank-Walter Steinmeier in Fivizzano auf der Piazza Vittorio Emmanuele II unter einem Zelt, das ihn vor der Mittagssonne schützt. Er beginnt seine Rede mit einem italienischen Satz. Auf Deutsch heißt er: „Es ist ein unendlich schwerer Weg, als Deutscher und als deutscher Bundespräsident an diesen Ort zu kommen und zu Ihnen zu sprechen.“ Seine ganze Rede hält das Staatsoberhaupt auf Italienisch. Er, der sein Land verkörpert und sich zu den Untaten verhalten muss, die deutsche Soldaten in Italien und anderen Ländern im Zweiten Weltkrieg begangen haben, will damit ein Zeichen des Respekts und der Demut vor den Menschen der Region setzen. Als der Gast seine Scham bekundet, brandet Beifall auf, Steinmeier rührt die Anwesenden an.

Er spricht zu den Bewohnern von Fivizzano, aber er spricht auch zu den Italienern und zu den Deutschen. Das Gedenken am Ort der in Deutschland kaum bekannten Massaker war nicht nur seine Idee, sondern auch die des italienischen Präsidenten Sergio Mattarella. Beide sind leidenschaftliche Europäer, wollen aus den Abgründen des 20. Jahrhunderts für die Zukunft lernen.

Beide sehen auch, dass sich in ihren Ländern immer stärker werdende Kräfte die Bindung zu den Lehren der Vergangenheit endgültig kappen wollen. In Italien treibt der Rechtspopulist Matteo Salvini ein zynisches Spiel mit der Angst vor Flüchtlingen und der Erinnerung an vermeintlich übermächtige Deutsche, die Rom nun angeblich moralisch schurigeln wollen. In Deutschland nennt Alexander Gauland die NS-Zeit einen „Vogelschiss“, ohne dass dies seiner AfD zu schaden scheint. Bei der Landtagswahl am Sonntag in Brandenburg könnte sie stärkste Kraft werden.

„Es ist geschehen, also kann es wieder geschehen.“

Auch Udo Sürer steht an diesem Sonntag auf der Piazza Vittorio Emmanuele II und hört wie rund 3000 Bewohnern von Fivizzano den Reden Steinmeiers und Mattarellas zu. Der Rechtsanwalt aus Lindau ist der Sohn des SS-Unterscharführers Josef Maier, dessen Einheit vor 75 Jahren das Leid über die Menschen der Region brachte. Im Krieg verlor er ein Bein, seine nationalsozialistische Gesinnung, so sagt sein Sohn verlor er auch im Frieden nicht mehr. Anfang der 2000er Jahre begann der Sohn im Nachlass seines verstorbenen Vaters zu recherchieren, fand Nazi-Devotionalien, einen Dolch mit der Gravur „Alles für Deutschland“, den SS-Ausweis.

Nachdem er das Wirken seines Vaters rekonstruiert hatte, machte er sich auf den Weg nach Fivizzano. Ein alter Mann, den er nach dem Weg nach Valla fragte, fragte zurück, was der Deutsche denn dort wolle. Es war ein banger Moment für Udo Sürer. Doch als er sich als Sohn des SS-Soldaten zu erkennen gab, reagiert der der alte Mann freundlich. Er war ein Überlebender des Massakers von Valla. Der Sohn des Täters wurde dennoch nicht feindselig aufgenommen. Seit 2004 nimmt Sürer jedes Jahr am Gedenken teil. So sehr schätzen die Italiener seinen Umgang mit seiner Familiengeschichte, dass die Gemeinde Fivizzano ihn zum Ehrenbürger machte. Steinmeier hat den Rechtsanwalt mitgebracht, weil der ein Beispiel gibt, wie Versöhnung auf der Basis von Ehrlichkeit und Mut funktionieren kann.

Die meisten deutschen Verantwortlichen für die Kriegsverbrechen, auch das erwähnt Steinmeier, wurden nie zur Rechenschaft gezogen. Deutschland sei da „seiner Verantwortung nicht gerecht geworden“, räumt er ein und schaut dann nach vorne: Das gemeinsame Europa gründe auf dem Versprechen nie wieder Krieg, nie wieder Nationalismus, Rassismus, Hetze und Gewalt. „Daran müssen wir uns erinnern, gerade in Zeiten, in denen das Gift des Nationalismus wieder einsickert in Europa.“ Mattarella wird später mahnend den italienischen Schriftsteller Primo Levi zitieren: „Es ist geschehen, also kann es wieder geschehen.“ Es geht an diesem Tag in Fivizzano nicht nur um die Gespenster der Vergangenheit, es geht auch um die der Gegenwart.

Nur einen Satz sagt Steinmeier auf Deutsch, es ist auch ein Zitat Primo Levis: „Wenn es schon notwendig ist zu verstehen, so ist doch das Wissen notwendig.“ Den italienischen Zuhörern erklärt der Bundespräsident dann in ihrer Sprache, er richte die Mahnung auch an seine Landsleute: „Gerade an die Jungen, sie müssen wissen, was geschah.“ Sie deutschen Schüler, die im nächsten Jahr für einen Austausch nach Fivizzano kommen wollen, zumindest sie werden es erfahren.

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