Putins Superwaffe: Start in ein neues Wettrüsten
Der Unfall auf einer russischen Militärbasis lenkt den Blick auf Moskaus neueste Atomrakete: Sie kann angeblich unbemerkt und beliebig lange fliegen.
Vor einer Woche, am 8. August, registrierten finnische Seismologen ein Beben der Stärke 2,8 auf der Richterskala mit dem Epizentrum in der Nähe von Archangelsk in Nordrussland. Es lag offensichtlich auf dem wichtigsten Raketentestgelände der russischen Marine bei dem Dorf Njonoksa.
Kurz darauf wurden von norwegischen Stationen erhöhte Strahlenwerte aus der Region gemeldet. Russland gab und gibt nur zögerlich Informationen preis. Bis heute sind diese Verlautbarungen nicht nur unzureichend, sie widersprechen in wesentlichen Punkten auch den Analysen westlicher Experten.
Was passiert sein könnte
Immer wieder haben russische Behörden in den vergangenen Tagen seine Darstellungen der Vorgänge auf dem Testgelände korrigiert. Zunächst hieß es, bei einem Test habe sich flüssiger Treibstoff entzündet und die Explosion einer Rakete herbeigeführt. Das erschien Fachleuten suspekt. Dafür waren die Erschütterungen zu heftig, und bei einem Feuer mit Raketentreibstoff tritt keine Strahlung aus. Der Test fand unter der Aufsicht von Spezialisten des russischen Nuklearkonzerns Rosatom statt. Fünf seiner Mitarbeiter und zwei Soldaten sind bei dem Unglück ums Leben gekommen.
Zur Erinnerung: Auch beim Anfang Juli dramatisch fehlgeschlagenen Test eines neuen, nuklear angetriebenen U-Bootes, bei dem 14 hochrangige Marineoffiziere den Tod fanden, spielte Rosatom eine Schlüsselrolle.
Nun erklärt der Konzern, an Bord der Rakete hätten sich Brennstoffelemente mit Radioisotopen für den Antrieb befunden. Auch diese Erklärung gilt als unwahrscheinlich angesichts der Strahlenwerte, die nach Angaben der staatlichen russischen Wetterbehörde zeitweise das natürliche Niveau um das 16-fache überschritten.
Die meisten Fachleute gehen vielmehr davon aus, dass dieses Ausmaß an Strahlung nur bei einer vollständigen Kettenreaktion freigesetzt worden sein kann. Also bei der Explosion eines Atomreaktors – wie in Tschernobyl, nur in einem viel kleinerem Maßstab.
Rosatom gibt sich dennoch unbeirrt. Konzernchef Alexej Lichatschow erklärte am Montag, die Entwicklungsarbeiten würden ungeachtet des Fehlschlages „vollendet“. Das sei im Sinne seiner getöteten Mitarbeiter. Russische Medien berichteten jedoch am Mittwoch, ein ursprünglich vorgesehener Test sei verschoben worden.
Eine neue Technologie
Als der russische Präsident Wladimir Putin im März vergangenen Jahres in einer Rede zur Lage der Nation neue Waffentechnologien vorstellte, die angeblich alle amerikanischen Abwehrsysteme überwinden können, war darunter neben einer neuen Generation von strategischen Atomraketen und Laserwaffen auch ein Marschflugkörper. Bei dessen Erprobung ist es nun offenbar zu einem Fehlschlag gekommen.
Die Rede ist von der Lenkwaffe 9M730 „Burewestnik“, der die Nato die Bezeichnung SSC-X-9 „Skyfall“ gegeben hat. Putin sprach von einer Waffe, die nicht mehr identifiziert werden könne, weil sie auf einer nicht-ballistischen Bahn die Abwehrzentren des Gegners umfliegen könne. Das wurde anschließend in einer Video-Animation gezeigt, in der ein Lichtpunkt in geschlängelter Linie über eine Weltkugel schwebte und in den USA einschlug.
Angetrieben werde die Rakete von einer kleindimensionierten Nuklearanlage, sagte Putin, die eine beliebig lange Flugzeit ermögliche. Der Präsident behauptete damals auch, die Tests seien erfolgreich abgeschlossen – eine Fehlinformation. Danach wurde über eine Reihe weiterer Tests auch mit Videos informiert, die selbst nach russischen Angaben „nicht vollständig erfolgreich“ waren.
Bisher ist bekannt, dass die „Skyfall“-Marschflugkörper rund zehn Meter lang und fünf bis sechs Tonnen schwer sind und mit Atomsprengköpfen bestückt werden können. Zwischen einer und zwei Tonnen wiegt allein der Atomreaktor, der eine Jet-Turbine antreibt. Gestartet wird mit konventionellem Treibstoff, die Nuklearanlage setzt ein, wenn die volle Fluggeschwindigkeit erreicht ist.
Solche Reaktoren können bis zu 15 Jahre Laufzeit haben, schätzen Experten. Interessant ist deshalb ein Nebensatz Putins in seiner Präsentation: Der neue Marschflugkörper könne „von seinen Begleitsystemen abgeschaltet“ werden. Ob er als autonomes Waffensystem, also unabhängig von menschlicher Steuerung, operieren kann, ließ der russische Präsident offen.
Amerikanische Entwicklungen
Putin behauptete in seiner Präsentation, die neuen Waffen seien „weltweit einzigartig“. Jetzt twitterte US-Präsident Donald Trump, die Explosion in Russland sei lehrreich für die USA. Man habe selbst eine „ähnliche, aber weiter fortgeschrittene Technik“. Davon geht man offensichtlich auch in Russland aus.
Wjatscheslaw Solowjew, ein leitender Mitarbeiter von Rosatom, sagte der „Moscow Times“: „Die Amerikaner haben im vergangenen Jahr auch einen Mini-Atomreaktor getestet.“ Unter dem Projektnamen Slam (Supersonic Low Altitude Missile) wurde bereits während des Kalten Krieges an Riesendrohnen mit Atomantrieb gearbeitet. Offiziell wurde das Projekt bereits Mitte der 60er Jahre beendet. Auch die Nasa arbeitete unter dem Namen „Kilopower“ an Mini-Reaktoren für Antrieb von Satelliten.
Das Pentagon denkt offenbar aber auch an weitere Anwendungen. Die Zeitschrift „Popular Mechanics“ berichtete im Februar auf ihrer Web-Seite, die Militärs würden transportable Atomkraftwerke entwickeln. Damit würde man auf dem Schlachtfeld unabhängig von den Nachschubwegen für Treibstoff, der Dieselstrom-Aggregate antreibt.
Drohender Kontrollverlust
Noch gilt der New Start Vertrag. Er ist nach dem Auslaufen des Vertrages über die Mittelstreckenraketen (INF) Anfang des Monats der letzte verbliebene Eckstein der Rüstungskontrolle zwischen Russland und den USA. Aber auch dieses Abkommen läuft im Februar 2021 aus. Es begrenzt die Trägersysteme (auf 700 plus 100 Reserve) und nuklearen Sprengköpfe (auf 1550) der strategischen Atomwaffen beider Länder. Auf die „Burewestnik“-Marschflugkörper und die entsprechenden US-Waffen könnte der Vertrag angewendet werden, das hängt von der Explosionskraft der Nuklarsprengköpfe ab.
Ob er den New Start Vertrag verlängert, will Trump erst im nächsten Jahr entscheiden. Doch sein Sicherheitsberater John Bolton hat es bereits vorweggenommen: „Er läuft im Februar 2021 aus, und auch wenn es noch keine Entscheidung gibt, wird er wohl kaum verlängert.“ Eines der Probleme aus US-Sicht: Auch China, Indien und wohl Nordkorea sind inzwischen Mächte, die über strategische Atomraketen verfügen. Von denen aber ist im Vertrag keine Rede.