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Olaf Scholz wird wohl der nächste Bundeskanzler. Hier präsentiert er nicht den Koalitionsvertrag, sondern die neuen Coronamaßnahmen.
© Michael Kappeler/dpa
Update

Koalitionsvertrag steht: SPD, Grüne und FDP einig – Überraschungen bei Ministerien-Vergabe

Der sprichwörtliche weiße Rauch steigt auf. Nach harten Verhandlungen steht der Koalitionsvertrag für die Ampel-Koalition – und auch die Postenvergabe.

Der Koalitionsvertrag für das erste Regierungsbündnis von SPD, Grünen und FDP auf Bundesebene steht. Nach schwierigen Verhandlungen bis zum Mittwochmorgen in der SPD-Parteizentrale gebe es eine Einigung, teilten SPD, Grüne und FDP in einer Presseeinladung mit. Zuvor hatten die Parteispitzen bis nach 1 Uhr im Willy-Brandt-Haus versucht, letzte Streitpunkte auszuräumen.

Demnach kommt die Hauptverhandlungsgruppe am Vormittag zu einem letzten Treffen zusammen. Am Nachmittag, um 15 Uhr, soll der Vertrag dann im Berliner Westhafen der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Dabei sollen neben SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz auch die Parteivorsitzenden der drei Parteien teilnehmen.

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Überraschungen gibt es bei der Ressortverteilung. Demnach sollen nicht die Grünen, sondern die FDP das wichtige Verkehrsministerium nehmen. Entsprechende Informationen der "Bild"-Zeitung wurden dem Tagesspiegel bestätigt. Als Kandidat gilt FDP-Generalsekretär Volker Wissing. Zudem wird Christian Lindner wie erwartet Finanzminister, neuer Justizminister könnte der FDP-Politiker Marco Buschmann werden, der das umstrittene neue Infektionsschutzgesetz mit einem Verbot für großflächige Lockdowns ausgearbeitet hat. Zudem sollen die Liberalen als viertes Ressort das Bildungs- und Forschungsministerium bekommen, hier gilt die hessische FDP-Chefin Bettina Stark-Watzinger als Kandidatin.

Die Grünen sollen fünf Ministerien bekommen, ein Wirtschafts-, Energie- und Klimaministerium, geführt von Robert Habeck, Annalena Baerbock soll Außenministerin werden. Zudem gehen wohl die Ressorts Familie, Umwelt sowie Landwirtschaft an die Grünen - bisher war spekuliert worden, dass Umwelt und Agrar zusammengelegt werden.

Wie der Tagesspiegel erfuhr, wird die Zahl der Ministerien von 14 auf 15 steigen. Denn es soll erstmals seit 1998 wieder ein eigenes Bau-Ministerium geben, erklärtes Ziel ist es, dass im Kampf gegen hohe Mieten und Wohnkosten jedes Jahr 400.000 neue Wohnungen in Deutschland gebaut werden sollen.

Die SPD soll neben Kanzler Olaf Scholz und dem Kanzleramtschef sechs Ministerien bekommen. Das für Bau, zudem auch das Innenministerium. Nachdem es zunächst hieß, die FDP könnte erstmals das Ressort bekommen, soll auch das Verteidigungsministerium an die SPD gehen, ebenso das schwierige Gesundheitsministerium, dazu das Ressort Arbeit und Soziales und Entwicklungspolitik.

Die Grünen wollen die gesamte personelle Besetzung ihrer Ministerien am Donnerstag ebenfalls im Berliner Westhafen bekannt geben, auch deswegen erfolgt die Präsentation des Koalitionsvertrags heute offenbar in dem Fabrikgebäude in Berlin-Moabit. Die SPD will ihre Kabinettsmitglieder erst am 4. Dezember bekanntgeben, bei der FDP war es zunächst unklar.

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Wenn die drei Parteien den Entwurf billigen, könnte damit Olaf Scholz in den Tagen nach Nikolaus zum Bundeskanzler und Nachfolger von Angela Merkel gewählt werden, die dann knapp den Amtszeitrekord von Helmut Kohl verpassen wird. Die Grünen-Parteimitglieder sollen ab diesem Donnerstag in einer digitalen Urabstimmung über den mit SPD und FDP ausgehandelten Koalitionsvertrag befinden.

Das neue Führungs-Quartett in Deutschland: Robert Habeck, Annalena Baerbock, Christian Lindner
Das neue Führungs-Quartett in Deutschland: Robert Habeck, Annalena Baerbock, Christian Lindner
© Kay Nietfeld/dpa

Auf die Koalition warten gewaltige Herausforderungen nach der Pandemie und mit dem Umbau von Wirtschaft und Industrie hin Richtung Klimaneutralität. Zudem driftet Europa immer weiter auseinander und international ist die Lage, gerade auch durch das Agieren Chinas und Russlands fragil, hinzu kommen die Herausforderungen etwa durch Flucht und Vertreibung.

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Scholz hatte zuletzt Druck gemacht, um möglichst zügig die Verhandlungen abzuschließen, da sich die Corona-Lage immer weiter zuspitzt. Am Dienstagnachmittag waren daher die Verhandlungen der Ampel-Parteien in der SPD-Parteizentrale unterbrochen worden, da Scholz und die Spitzen von Grünen und FDP zu Kanzlerin Angela Merkel (CDU) fuhren, um über die Corona-Lage zu beraten.

Merkel hatte das Auslaufen der epidemischen Lage von nationaler Tragweite mit  Sonderdurchgriffsrechten der Exekutive kritisiert, nach den Beschlüssen dürfen ab 25. November trotz der Lage auch keine regionalen Lockdowns mit dem Herunterfahren des öffentlichen Lebens verhängt werden.

Mit dem "Zitrus-Selfie" fing alles an: FDP und Grüne berieten zunächst allein - und entschieden sich dann für die SPD.
Mit dem "Zitrus-Selfie" fing alles an: FDP und Grüne berieten zunächst allein - und entschieden sich dann für die SPD.
© dpa

Auch die Details der geplanten Impfpflicht etwa für Pfleger und Ärzte sind noch unklar.  "Wir haben eine Lage, die alles übertreffen wird, was wir bisher hatten", hatte die geschäftsführende Kanzlerin gemahnt – sie ist aber wegen der neuen Mehrheiten im Bundestag in der Corona-Politik auf Unterstützung der drei Parteien angewiesen, die die künftige Regierung stellen wollen.

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Die Dramatik der Lage überschattet auch die durchaus historische Einigung und das Aufbruchssignal, das die Ampelparteien aussenden wollen – für die Grünen wäre es die erste Regierungsbeteiligung seit 2005, für die FDP seit 2013. An diesem Mittwoch oder Donnerstag wird in Deutschland die Schwelle von 100.000 Corona-Toten überschritten - die Ampel-Parteien müssen sich fragen lassen, ob ihr Paket ausreicht, um die vierte Welle zu brechen, es setzt vor allem auf den Ausschluss Ungeimpfter von weiten Teilen des öffentlichen Lebens, aber auch viele Geimpfte haben sich infiziert.

Am Ende hakte es - und dauerte lange

Streitpunkte bei den Koalitionsverhandlungen waren zuletzt vor allem die Ressortverteilung und Finanzierungsfragen, etwa zum FDP-Projekt einer Aktien-Rente, um die Altersversorgung auf finanziell neue Beine zu stellen.

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Auf der Zielgeraden konnten die Grünen Erfolge in ihrem Kernfeld der Klimapolitik verbuchen. So soll der Kohleausstieg von 2038 auf 2030 vorgezogen werden. Die Bedingung: Die Versorgungssicherheit muss gewährleistet sein und soziale Härten für Beschäftigte etwa in der Lausitz müssen abgefedert werden. Das Datum 2030 war eine Forderung der Grünen und für sie besonders wichtig. Außerdem soll auf Erdgas für die Stromerzeugung spätestens ab 2040 verzichtet werden. Erdgas-Heizungen sollen bis Mitte der 2030er Jahren ausgetauscht werden.

Gesundheitsministerium wenig beliebt

Offen war bis zuletzt wer das wegen der Corona-Pandemie nicht besonders beliebte Gesundheitsministerium übernehmen soll, Jens Spahn erlebt gerade, wie schnell man dort zum Sündenbock der Nation wird. Auch wenn er selbst schon Ambitionen auf das Ressort angemeldet hatte, sahen führende SPD-Kreise den SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach im Vorfeld der Entscheidungen als nicht geeignet an für das schwierige Amt des Gesundheitsministers. Er sei besser in seiner Rolle als Kommunikator, die er habe.

Scholz kann gleich ein schwieriger Corona-Gipfel erwarten

Der Zeitdruck für eine Einigung war auch durch das weitere Prozedere entstanden – die Grünen wollen noch ihre rund 125.000 Mitglieder befragen, das dauert etwa 10 Tage. „Jedes Mitglied kann mitbestimmen, ob Bündnis90/Die Grünen als Teil der ersten Ampel-Regierung im Bund erstmals seit 2005 wieder in eine Bundesregierung eintritt und ob es mit dieser Regierung einen Aufbruch beim Klimaschutz und dem sozialen Zusammenhalt in diesem Land gibt", sagte Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner der Deutschen Presseagentur. Für eine Zustimmung braucht es eine einfache Mehrheit.

Die SPD will bei einem Parteitag am 4. Dezember entscheiden, die FDP am 5. Dezember. Gleich nach seiner Kanzlerwahl und der Vereidigung seiner Minister wartet auf Scholz am 9. Dezember die erste große Bewährungsprobe. Dann tagt die nächste Bund-Länder-Runde, die Ministerpräsidentenkonferenz. Dort soll das von den Ampelparteien entschärfte Infektionsschutzgesetz auf seine Wirksamkeit hin überprüft werden – die Union fordert jetzt schon, es zu kassieren und zum umfassenderen „Instrumentenkasten“ angesichts der Lage zurückzukehren. Am Folgetag, den 10. Dezember, könnte Scholz seinen ersten großen  internationalen Auftritt haben, beim virtuellen Demokratiegipfel von US-Präsident Joe Biden.

Mit dem "Zitrus"-Selfie fing es an

Damit wollen die drei Parteien ein Bündnis bilden, die als einzige bei der Bundestagswahl zulegen konnten: Die SPD landete bei 25,7 Prozent, die Grünen bei 14,8 Prozent und die FDP bei 11,5 Prozent. Zunächst hatten Grüne und FDP untereinander Schnittmengen ausgelotet, dabei entstand das berühmte Selfie von FDP-Chef Christian Lindner, FDP-Generalsekretär Volker Wissing und den Grünen-Chefs Robert Habeck und Annalena Baerbock. Nach Sondierungsgesprächen mit der zerrütteten Union entschieden sich bei den Parteien für den Ampel-Weg.

Die Sondierungen und anschließenden Koalitionsverhandlungen waren von großer Verschwiegenheit geprägt, auch als gegenseitiger Vertrauensbasis. Kaum etwas drang heraus, ein großer Unterschied zu früheren Verhandlungen. Nach Olaf Scholz hatte zuletzt auch FDP-Chef Lindner erklärt, das Bündnis trete an, um in vier Jahren wiedergewählt zu werden. Hauptziele sind ein neuer Aufbruch, um das Land zum Beispiel in Sachen Klimaschutz, Digitalisierung, Bürokratieabbau, Steuerpolitik und Renten zukunftsfester zu machen, Scholz erklärtes Ziel ist auch mehr Respekt in der Gesellschaft und eine Verringerung der Spaltungen im Land, dazu soll auch der Mindestlohn auf zwölf Euro die Stunde steigen. Aber zunächst dürfte die neue Regierung mit der gleichen Krise wie die scheidende Regierung schwer beschäftigt sein: Der Corona-Pandemie und der drohenden Überlastung vieler Intensivstationen.

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